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Ästhetische Entwicklung


Kollegiale Inszenierungsdiskussion bei KUSS-Festival

01.04.2011 (jnl)
Wann, wenn nicht auf einem Festival des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters, bekommen die Kreativen Feedback von eigenen Fachkollegen? Die Inszenierungsgespräche am Mittwoch (30. März) auf der Probebühne des Hessischen Landestheaters Marburg boten einen fachlich-versierten Blick hinter die Kulissen.
Die künstlerisch Verantwortlichen von vier auf dem KUSS-Festival gezeigten Produktionen standen je 20 Minuten lang Rede und Antwort. Dabei kam manches Inhaltliche ebenso wie viele Details der Inszenierungen zur Sprache.
Bei "Wie schön weiß ich bin" überraschte die Erläuterung, dass die Umsetzung des Buchs fürs Theater zunächst vollständig von Eva Coenen ausgegangen war. Erst später war das entstandene Stück ins Repertoire aufgenommen worden.
Die Umstrittenheit des Stoffes wurde thematisiert. Die unzensierte, kindliche Aussprache einer Selbstverständlichkeit des Rassismus und der Sklaverei komme - so einige Teilnehmer - bei Teilen des Publikums als anstößig und Tabu verletzend an.
Die anwesende Initiatorin und Darstellerin verwies darauf, dass Rassismus und sogar Sklaverei bis in die Gegenwart weltweit vorkommen. Eine rassistische Weltanschauung werde von Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Da müsse man ansetzen.
Ob sie aus heutiger Sicht dramaturgisches Potenzial zur weiteren Verbesserung des Stücks sehe, wurde Coenen gefragt. Wo ihr etwas Einleuchtendes eingefallen sei, habe sie nachgebessert und werde das auch weiter so halten, meinte sie.
Abschließend wurde festgestellt, dass dieses Solostück zwei nahezu gleich starke Themen beinhaltet. Dabei handelt es sich um Rassismus und erwachende weibliche Sexualität.
Als zweites Stück kam "Amok! - 20. November" zur Sprache. Zu seiner Inszenierung erläuterte Max Augenfeld, dass im Titel eigentlich nur das Datum stehen sollte. Da aber allzu viele Theaterbesucher mit dem bloßen Datum spontan nichts assoziierten, habe er sich gezwungen gesehen, das Wort "Amok" dazuzusetzen.
Inhaltlich beschäftigt sich die Produktion mit der Aufarbeitung des Amoklaufs von Emsdetten 2006. Der 18-jährige Schüler Sebastian B. hatte die Tat im Web angekündigt, drei Dutzend Menschen angeschossen und sich zuletzt selbst getötet.
Die Besetzung der Solo-Rolle mit einer Frau sei der Intention zu verdanken, dass man nicht lediglich dokumentarisch die Taten nachstellen wollte. Der Gender-Switch diene der Distanznahme.
Ob als Ursache nun psychische Erkrankung oder Labilität, eine soziopathische Grundeinstellung oder ein mobbendes Schulumfeld am meisten beigetragen haben, bleibe offen. Mit der Inszenierung des Stücks von Lars Norén wolle man nicht Antworten liefern, sondern die Dringlichkeit unterstreichen, sich auch an den Schulen rechtzeitig die richtigen Fragen zu stellen.
Nach einer kleinen Kaffeepause ging es weiter mit der Kollegen-Kritik zur Marburger Inszenierung von "Schwestern". Anstelle der wegen eines erkrankten Schauspielers ausgefallenen "50 ways to love your monster" war diese Inszenierung ersatzweise ins Festivalprogramm aufgenommen worden.
Die Dramaturgin Eva Bormann berichtete von zahlreichen Bedenken von Lehrerinnen und Eltern, Kinder mit dem Thema "Tod" zu konfrontieren. Kinder teilten diese Probleme angeblich ganz überwiegend nicht.
Meistens ließe sich diese Übervorsicht der Erwachsenen ausräumen. Es habe sich gezeigt, dass man das mit dem Tod in der Ankündigung nicht unbedingt ausdrücklich nennen sollte, dann wirke es am eindringlichsten.
Das Theaterstück sei exzellent geschrieben. Die Trauer im Fall des Todes eines Geschwisterkinds sei darin bestens bearbeitet.
Die Darstellerin Annette Müller erläuterte ausführlich auf entsprechende Nachfrage, warum sie die imaginierte tote Schwester mit so verstellter Stimme und Gestik gespielt habe. Ihr Körpersprachmodell dabei sei den Erdmännchen abgeschaut.
In den Proben habe sie gemerkt, dass die Figur für sie ohne eine überhöhende, alltagsfremde Darstellung nicht funktioniert habe. Obwohl besonders von Schauspieler-Kollegen immer wieder der Einwand laut werde, "das geht so aber nicht", habe sie sich darin nie beirren lassen.
Als letztes kam die am gleichen Vormittag aufgeführte Produktion "Sultan und Kotzbrocken" auf den Seziertisch. Als erschwerend für die gemeinsame Diskussion stellte sich heraus, dass der iranische Schauspieler nicht ausreichend Deutsch verstand, um ohne Übersetzung folgen zu können.
Lobend wurde einmal mehr herausgestrichen, dass es wegen der Kooperation mit iranischen Kindertheatern mehrere Sprachversionen der Inszenierung gibt. Breiten Raum nahm die Schilderung der Aufführungen im Iran ein.
Unter den Bedingungen einer Diktatur und eines autoritären Erziehungskonzepts wie im Iran achteten die Zuschauer akribisch auf jedes Detail, um den verborgenen Subtext herauszulesen. Viel mehr Erwachsene - oft mehr als die Hälfte der Zuschauer - besuchten die Kindertheater-Vorstellungen dort.
Regisseur und Hauptdarsteller Peer Damminger berichtete von tagelangen Tauziehen um Zensurmaßnahmen. Ein Furz dürfe dort wegen Autoritätsuntergrabung nicht im Theater gespielt werden. "Herr und Knecht" habe dort als Thematik eine enorm große Bedeutung.
Nur am Rande wurde dann auch deutsche Kritik laut, das Stück sei doch arg belanglos geraten. Als Entgegnung verwies die Bearbeiterin Bärbel Maier darauf, dass doch auch in Deutschland zahlreiche überbehütete Kinder vorkämen, die erhebliche Defizite in ihrer Selbständigkeit aufwiesen.
Jürgen Neitzel
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