28.03.2011 (jnl)
Ein preisgekröntes Jugendbuch gab die Vorlage für ein aufregendes Theatererlebnis. Am Montag (28. März) sorgte "Wie schön weiß ich bin" nach Dolf Verroen für einen weiteren Höhepunkt beim KUSS-Festival des
Hessischen Landestheaters Marburg.
Das Saarbrücker Theater "Überzwerg" holte mit dieser Inszenierung eines fiktiven Jungmädchen-Tagebuchs gleich mehrere spannende Themen ins Blickfeld. Da ist zunächst die jugendliche, verklemmte Sexualität vergangener Zeiten und daneben die Gefühlsrohheit einer Sklavenhalter-Gesellschaft.
Das Erzähltheater setzte damit ein, dass Maria zwölf Jahre alt wird. Zum Geburtstag bekommt sie von ihrem Papa den neunjährigen schwarzen Jungen Coco als Sklaven sowie eine Peitsche geschenkt.
Das findet sie toll. Im Weiteren nutzt sie die Wehrlosigkeit ihres "Eigentums" weidlich für allerlei Willkür und Launen aus.
Sämtliche wichtigen Ereignisse im Laufe einiger Monate im Leben des Mädchens erfuhren die Zuschauer aus dem Mund der Schauspielerin. Gekleidet in rosa-weiße Unterwäsche, wie sie im prüden 19. Jahrhundert üblich war, sprang und tanzte die noch recht kindliche Maria die ganze Zeit durch den gesamten Aufführungsraum.
Um das Publikum hautnah in das Geschehen hineinzuziehen, spielte das Stück nicht auf der klassischen Guckkasten-Bühne. Die 60 Zuschauer saßen im elliptischen Kreis auf Papphockern um einen zentralen, niedrigen Tisch mit weißem Schleier und zwei geschmückten Stühlen herum.
Mit dem Schleier posierte Maria als Braut vor zwei großen Spiegeln. Wie es wohl sei, wenn sie erst groß und Geliebte und verheiratet wäre, war ihr Sehnsuchtsthema.
Das Mädchen zeigte sich dabei als eine genaue Beobachterin ihrer Eltern, der Diener-Sklaven und der wechselhaften Beziehungen, die da vorkamen. Die Kränkung und Eifersucht ihrer Mutter, als sich der Vater kurzerhand eine bildschöne, jugendliche Lustsklavin zulegte, nahm sie richtig mit.
Zugleich erlebte Maria die oft grausamen Willkürtaten und Strafen, die ihre Familie den schwarzen Sklaven antat, nahezu ohne jedes Mitgefühl. Denn in ihren Augen waren das ja keine Menschen, sondern Eigentum wie Haustiere auch.
Immer wenn die Spielhandlung einen dramatischen Höhepunkt beschrieb, kam mit Musikintro, einem Jauchzen und Luftsprung Marias der "Tantentag". Diese Kaffeklatsch-Treffen der weiblichen Verwandtschaft waren die gesellschaftlichen Höhepunkte im Leben des Mädchens.
Dort konnte sie allerhand Rollenmodelle beobachten. Der Busen ihrer Tanten war Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit. Ihr größter intimer Kummer war, dass die Brüste bei ihr noch nicht gewachsen waren.
Der finale Höhepunkt der Aufführung war Marias Enttäuschung über ihren Vetter Lukas, den sie anhimmelte und zu heiraten gehofft hatte. Die Aufdeckung, dass ausgerechnet er einer Sklavin ein Baby gemacht hatte, ließ aus lauter Kränkung ihre "Wunschwelt" einstürzen.
Die sowohl in Stimmführung wie Körpersprache hervorragende schauspielerische Leistung Eva Coenens gab dem unter die Haut gehenden Stück zusätzliche Wucht. Dieses - mit geringem Bühnenaufwand auskommende - Solostück ist ein Juwel des Jugendtheaters. Dem Theater Überzwerg ist damit eine wirklich tolle Produktion geglückt.
Die scharfen Kontraste zwischen der naiven kindlichen Perspektive des Mädchens und den humanistisch aufgeklärten Werten der Gegenwart boten reichlich Zündstoff für eine Auseinandersetzung. Viele Erfahrungen rund um die erwachende Sexualität sind relativ zeitlos und boten zumal weiblichen Jugendlichen einen leichten Zugang. Der Applaus war entsprechend groß und lang anhaltend.
Jürgen Neitzel
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