11.02.2011 (jnl)
Die möglicherweise mehrheitlich uninformierte Zustimmung zur sogenannten "Schuldenbremse", die per Volksentscheid in die hessische Landesverfassung aufgenommen werden soll, ruft die Kritiker auf den Plan. Am Donnerstag (10. Februar) fand eine Podiumsdiskussion mit dem Titel "Die Schuldenbremse als Bildungsbremse" im Hörsaal 6 des Hörsaalgebäudes statt.
Als Moderator schilderte der Marburger DGB-Sekretär Dr. Ulf Immelt eingangs die erheblichen Anstrengungen, in ganz Hessen gewerkschaftlich Aktive zur Ablehnung der schwarz-gelben Vorgabe zu mobilisieren. Wie in vielen weiteren Städten und Kreisen gibt es seit Januar 2011 auch in Marburg eine "Plattform gegen die Schuldenbremse in der hessischen Verfassung".
Als Auftakt zeigte man das Video "Gegen die Schuldenbremse". Per Animationsfilm werden darin die Folgen für Kinder und Bildungseinrichtungen ausgemalt.
Die kleine Susi verliert ihre unterfinanzierte Kindertagesstätte und die Jugendmusikschule. Die Straßen wie die Schulen verkommen mangels Geld für Instandsetzung. Der flotte Zeichentrickfilm ist seit kurzem auch auf YouTube zu sehen, erläuterte Immelt.
Der Volkswirt Klemens Himpele aus dem Beirat des Bunds demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi) erläuterte die nationalökonomischen Zusammenhänge. Keineswegs seien die deutschen Staatsausgaben in den vergangenen Jahren immens gewachsen.
Im Gegenteil sei real für Deutschland ein Rückgang von 0,2 Prozent belegt.
Nahezu alle anderen Industrieländer außer Japan hätten tatsächlich Steigerungen. Daher sei die Begründung der Schuldenbremse mit ökonomischen Argumenten schlicht unsinnig und irreführend.
Falls Hessen eine solche Pseudo-Schuldenbremse einführe, könne das Bundesland seine ureigenen Aufgaben bei der Erhaltung der Infrastruktur und Bildung nicht mehr leisten. Strukturelle und konjunkturelle Verschuldung könne man mit ökonomischen Mitteln ohnehin nicht nachvollziehbar trennen.
Der Sozialethiker Prof. Dr. Franz Segbers von der
Philipps-Universität rückte die ethischen Dimensionen ins Blickfeld. Eloquent und wortreich beklagte er die Irreführung der hessischen Wahlberechtigten durch die schwarz-gelbe Landesregierung.
Der mangelnde Weitblick der Regierenden werde zu einer zunehmenden Privatisierung und Verelendung der Bildungslandschaft führen. Die Medien versagten bei der Aufklärung über die Sachverhalte und Folge-Szenarien. Der Weg zur Zustimmung laufe über schlimm irreführende "Falschworte" wie "Schuldenbremse".
Den lebendigsten - da im Stehen und frei vorgetragenen - Beitrag lieferte als Dritter auf dem Podium der versierte Kommunikator Jochen Nagel. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) brillierte.
Mit einem sehr flott von Cartoons und Grafiken unterlegten Beamer-Referat zeigte er auf, dass Hessen im Vergleich zu den anderen Bundesländern bei den Ausgaben für Bildung schon jetzt ganz hinten liege.
Die rhetorischen Aussagen der schwarz-gelben Landespolitiker, man wolle in der Bildung "Spitze" sein, sprächen den tatsächlichen Verhältnissen Hohn. Nirgendwo in Deutschland käme man auf so wenig Lehrerstellen wie in Hessen.
Nagel warnte vor weiteren "schmerzlichen Einschnitten", die die Bildungschancen für Kinder ärmerer Schichten noch weiter verringern würden. Mit dieser sogenannten "Schuldenbremse" in der hessischen Landesverfassung fahre man die wichtigste föderale Landesaufgabe endgültig vor die Wand.
Der Zustand des Hörsaals der Veranstaltung, dessen versagende Lüftung zu manchen Klagen bei den Besuchern führte, war ein ausgesprochen spürbares Menetekel für die durch verschärfte Unterfinanzierung der Hochschulen zu erwartende Misere. Die rund 50 Besucher der Podiumsdiskussion waren nach diesen geballten Informations-Inputs jedenfalls keine ahnungslosen Opfer der Regierungs-Leimrute mehr.
Jürgen Neitzel
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