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Richtig philosophisch


Kuttners abgefahrene Abschweifungen

09.02.2011 (jnl)
Bekommt der ostdeutsche Dampfplauderer Jürgen Kuttner aus seinem Marburger Publikum den "Wutbürger" herausgekitzelt? Der zu rund zwei Dritteln gefüllte Hauptsaal des Theaters am Schwanhof erlebte am Mittwoch (8. Februar) einen mephistophelisch um die Ecken denkenden Satiriker.
Zu Beginn der Vorstellung lief ein kurzer Videoausschnitt in Dauer-Wiederholungsschleife. Bis zum Erbrechen verkündete eine ausgeflippte junge Frau strahlend, dass Jesus lebe und sie von allen gewöhnlichen Lebensproblemen befreit habe. Sie erscheint als Sinnbild einer verrückt gewordenen Gesellschaft.
Mit einer solchen Schleifen-Sequenz beginnen Kuttners Auftritte regelmäßig, erläuterte der auf die Bühne getretene Entertainer. Er ging so weit, zu sagen, dass in dieser kurzen Bilderfolge komprimiert die Essenz des ganzen Abends stecke. Man hörte es und wunderte sich.
Kunst müsse weh tun, so lautet die von Kuttner explizit vertretene Philosophie. Es gebe keinen Erkenntnisfortschritt ohne Geburtsschmerz.
Und als freundlicher Geburtshelfer der Gedanken - im Sinne von Sokrates - stellte sich Kuttner allein auf die große Bühne. Für diesen Mut und die Fähigkeit, mehr als zwei Stunden lang in hohem Sprechtempo Kulturkritisches von sich zu geben, bewundert ihn das Publikum.
Geschickt brachte der Ostberliner das Prinzip "Kunstverdacht" als vorwegnehmendes Argument vor. Demnach könnte alles, was jemand im Publikum nicht auf Anhieb versteht, möglicherweise "Kunst" sein. Das zöge dann den Selbstvorwurf "zu ahnungslos" nach sich.
So wäre vieles gerechtfertigt. für die Offenlegung dieses Zirkelschlusses bekam Kuttner Applaus.
Überhaupt zeigte sich der legendäre Radio-Plauderer zufrieden, dass sich der Publikumszuspruch im Vergleich zum Auftritt am 1. Dezember 2010 glatt verdoppelt habe. Statt über "Schlager" - so kündigte er an - werde er diesmal über "Weltverbesserungsmaßnahmen" reden.
Kuttners Videoschnipsel entstammen vorwiegend den Archiven der Rundfunkanstalten und sind meist aus längst vergangenen Jahrzehnten. Joseph Beuys war dabei gleich zweimal vertreten.
Kuttner zeigte ihn mit einer Fluxus-Aktion "Ausfegen" von 1972 und einem Grünen-Wahlspot von 1984. Kuttner, der einen Dr. phil in Kulturwissenschaften hat, polemisierte nicht gegen Beuys, machte sich aber doch gehörig über ihn lustig.
Auch das DDR-Fernsehen war zweimal dabei. Egon Krenz wurde gezeigt, wie er im Mai 1989 die gefälschten Kommunalwahlergebnisse im DDR-Fernsehen verkündet. Ausgiebig lästerte Kuttner über Teleprompter und gefälschte Demokratie.
Außerdem wurde ein rührend anachronistischer Werbespot für kleine technische Verbesserungen am "Trabi" auseinandergenommen. Der Spot-Darsteller ist sichtbar schlecht gelaunt, wirkt aber gerade dadurch ehrlicher als heutige Werbestandards.
Ehrlichkeit ist ohnehin ein Schlüssel-Begriff für das Phänomen Kuttner. Er traut sich, sich zur Ost-Vergangenheit, Marx und links Sein zu bekennen. Daraus zieht er Attraktivität und Glaubwürdigkeit vor allem bei Menschen, die selber aus "Neufünfland" stammen.
Die kleinen Videos, die über den Beamer flimmerten, nahmen nicht einmal fünf Prozent der zweieinhalb Stunden ein, die Kuttners One-Man-Show dauert. Dieser unterhaltsame Monolog kommt übrigens ganz ohne Pause aus. Die "Schnipsel" sind lediglich Vorwand, um Beobachtungen anzustellen und Gedanken zu entwickeln.
Kuttner ist kein Kabarettist im herkömmlichen Sinne, denn er kommt weitgehend ohne Parodie und Pointen aus. Daher trat auch nicht häufig lauthalses Gelächter im Publikum auf. Das ist schade, denn die befreiende Kraft des Lachens hilft dem Nachdenken mehr als bloßes Schmunzeln.
Kritisch muss man auch die Flucht Kuttners aus den Bezügen zur Gegenwart hin zu lauwarmem Geschichtsphilosophieren über uralte Verrücktheiten der 50er bis 90er Jahre bewerten. Sein Konzept geht nicht auf. Gegen den früh verstorbenen Matthias Beltz oder die ungleich politisch scharfsinniger und heutiger vortragenden Kabarettisten Volker Pispers oder Matthias Deutschmann fällt Jürgen Kuttner ab.
Dass er am Tag seines Auftritts seinen 53. Geburtstag feierte, verriet er auf der Bühne nicht. Den "Wutbürger" entzündete der altersmilde Philosoph Kuttner in Marburg auch nicht. Der Schlussapplaus war dementsprechend freundlich, aber nicht stürmisch.
Jürgen Neitzel
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