24.01.2011 (mhe)
Leise und kaum wahrnehmbar schüttelte Frau Holle in den vergangenen Tagen ihre Kissen aus und bepuderte so die Natur mit einer hauchzarten Schicht. Auch für die nächsten Tage kündigen die Meteorologen geringfügige neue kristallene Niederschläge an.
Man möchte meinen, dass diese Aussicht mit Blick auf den Kalender keine besondere Überraschung ist. Laut und eindringlich meldet sich dennoch sogleich die Erinnerung an weniger romantische Momente während der Wintermonate. Leicht beunruhigt denke ich daran zurück, wie abermillionen entzückend kleiner Schneeflocken für ein unüberschaubares und streckenweise nicht mehr zu bewältigendes Chaos sorgten.
Ohne tatsächlich zu wissen, wo er noch hin könnte, schaufelten viele Marburgerinnen und Marburger den - nun im Überfluss vorhandenen - Schnee aus schierer Verzweiflung einfach in die nächstbeste Gartenhecke. Zudem säumten von nun an zum Teil meterhohe Schneeberge die Bürgersteigränder und erinnerten damit vielmehr an Winterkulissen im Allgäu als an die gewohnt karg verschneiten Gehwege meiner schnuckelig kleinen hessischen Wahlheimat.
Unvergessen bleiben auch die drei schuftenden Bagger vor dem Erlenring-Center. Im Akkord sorgten sie kurz vor Weihnachten dafür, dass anrollende Lastwagen in der Lage waren, den dort ansässigen Supermarkt mit Ware zu beliefern.
Man konnte dieser weißen Pracht also beim besten Willen nicht mehr aus dem Weg gehen. Ganz im Gegenteil sorgte ihr massives Auftreten sowie ihr hartnäckiges Verweilen eher sogar noch dafür, dass viele Menschen vor den Schneemassen kapitulieren mussten.
Ältere Personen waren so gut wie gar nicht mehr im Stadtbild zu sehen. Auffällig viele Mütter und Väter hatten ihre Säuglinge vor den Bauch gebunden, anstatt sie im Kinderwagen vor sich herzuschieben. Die dickgeschlossene Schneedecke verschluckte Kontraste und Konturen, so dass Sehbehinderte und Blinde keine Orientierungspunkte mehr hatten.
Mein - ansonsten als zuverlässiges Fortbewegungsmittel vertrauter - Rollstuhl versagte vollends seine Dienste. Ich bin in einem Stadtteil zuhause, der in dieser Zeit mehr einer kraterartigen Mondlandschaft als einem Wohngebiet glich.
Trotz ihres unermüdlichen Einsatzes gelang es meinen Assistentinnen nur mit großer Mühe, mich innerhalb dieser Gegend auf den dick vereisten Schneeschichten zu schieben. Das Vorwärtsfahren war dabei fast unmöglich, da die kleinen Vorderräder sofort steckenblieben.
So verließ ich über Wochen hinweg nur zu ganz unausweichlichen Terminen das Haus. Dabei ausschließlich Millimeter für Millimeter rückwärts gezogen, dauerten die Unternehmungen nunmehr das drei- bis fünffache meiner üblicherweise eingeplanten Zeit. Nicht selten erhielten wir mitleidige Blicke und bedauerndes Schulterzucken aus vorbeifahrenden Autos.
Beeindruckend war dagegen die große Hilfsbereitschaft anderer Fußgängerinnen und Fußgänger. An völlig unwegbaren Stellen tauchten sie plötzlich wie aus dem Nichts auf und boten ihre Unterstützung an. Ihr Engagement ging bisweilen so weit, dass sie selbst enorme Umwege in Kauf nahmen, um mich an meinen gewünschten Zielort zu bringen.
Wenn ich momentan unterwegs bin, kommt mir der noch nicht lange zurückliegende wetterbedingte Ausnahmezustand wie ein unwirklicher Traum vor. Das schneereiche Erlebnis war so prägend, dass ich manchmal nur staunen kann, wie gut und schnell ich auf einmal wieder vorankomme. Einzig die Unmengen von geräuschvoll knisterndem Streu unter meinen Rädern lassen jetzt noch vermuten, welche naturgewaltigen Barrieren überall gelegen haben.
Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, soll an dieser Stelle angemerkt werden, dass es sich hierbei selbstverständlich kaum um einen Appell an das Wetter handeln kann, demnächst nur noch überschaubare Schneeportionen zu servieren. Speziell im Sinne von mobilitätseingeschränkten Menschen und Personengruppen wäre es jedoch wünschenswert, wenn künftig effektivere und zeitnahere Maßnahmen bezüglich der Nachsorge solcher blitzartigen Wintereinbrüche wirksam werden könnten. Im Fall ausbleibender Lösungsansätze bleibt dann am Ende vielleicht nur noch die Möglichkeit, auf ein arktisches Fortbewegungsmittel auszuweichen. Geradezu märchenhaft scheint die Vorstellung, dass durch Marburgs Straßen glöckchenklingende Schlitten umhersausen, die wahlweise von einem Achter-Gespann Huskies oder rotnasigen Rentieren gezogen werden.
Mireille Henne
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