02.12.2010 (gac)
"Ich weiß nicht, wie das Wetter in Russland ist; aber zumindest stellen wir es uns so vor wie heute", sagte Oberbürgermeister Egon Vaupel. Dabei wies er aus dem Fenster, wo dicke weiße Schneeflocken langsam herabsanken und sich auf den Dächern niederließen. "Verstehen Sie es einfach so, dass Marburg sich sein russisches Kleid angezogen hat, damit Sie sich bei uns wohlfühlen".
Vaupel begrüßte am Donnerstag (2. Dezember)im Rathaus zehn russische Schülerinnen und Schüler zusammen mit ihren zwei Lehrerinnen. Die Jugendlichen zwischen 15 und 16 Jahren sind insgesamt zwölf Tage lang in Marburg zu Gast. In dieser Zeit leben sie in den Familien ihrer Austauschpartner von der Martin-Luther-Schule und der Elisabethschule.
Seit 1989 finden regelmäßig Austauschprogramme der beiden Marburger Gymnasien mit dem Gymnasium Nummer 1527 aus dem Stadtteil Kolomenskoje im Süden Moskaus statt. Bereits im September hatten die deutschen Schülerinnen und Schüler bei einem Besuch in Moskau ihre Austauschpartner kennengelernt.
"Es ist wichtig, dass junge Menschen aus unterschiedlichen Kulturen sich kennenlernen", betonte Vaupel. "Nur so können wir die Friedenspolitik fördern. Sie werden merken, dass die Fragestellungen hier nicht anders sind als in Russland; und so können wir gemeinsam Antworten entwickeln."
Der Oberbürgermeister gab den russischen Schülern anschließend eine kleine Geschichtsstunde, bei der auch deren deutsche Austauschpartner sicherlich noch einiges über ihre Heimatstadt lernen konnten. So verwies Vaupel zunächst auf denLandgrafen Philipp den Großmütigen, die Landgräfin Elisabeth von Thüringen sowie den Arzt und Immunologen Prof. Dr. Emil von Behring, die die Stadt entscheidend geprägt haben. Auch den russischen Dichter und Reformer Michail Lomonosov vergaß Vaupel dabei nicht. Der Universalgelehrte hatte in Marburg studiert und sogar eine Marburgerin geheiratet. Nach ihm ist heute die Staatliche Moskauer Universität benannt.
"All diese Menschen, die die Stadt so prägen, wurden nicht in Marburg geboren", erklärte Vaupel. "Aber vielleicht verstehen sie jetzt, warum wir hier so gerne Gäste empfangen. Wer weiß, vielleicht bleibt ja jemand von ihnen hier; und in hundert Jahren wird ein anderer Bürgermeister einer russischen Austauschgruppe erzählen, wie sie die Stadt verändert haben", mutmaßte er.
Zudem klärte der Oberbürgermeister die Jugendlichen über Geschichte und Bedeutung des Bildes "Zyklus des Lebens" von Karl Bantzer auf. Das Gemälde im historischen Saal hatten die zwei jüdischen Brüder Strauß einst der
Stadt Marburg geschenkt. Doch wurden sie nur kurze Zeit später von den Nationalsozialisten vertrieben.
"Ich will damit auf zwei Dinge verweisen", mahnte Vaupel. "Erstens, dass solche politischen Fehlwege wie zu Zeiten des Nazi-Regimes nicht wieder vorkommen dürfen. Und zweitens, dass, wenn wir vorschnell Entscheidungen treffen, wir diese möglicherweise später bereuen. Wir sollten persönliche Urteile also nicht zu schnell treffen."
Tobias Meinel dankte Vaupel anschließend für seinen Beitrag. "Das war Geschichte, Philosophie und Ethik zugleich", stellte der Direktor der Elisabethschule begeistert fest.
Die russischen Gäste dürften dabei kein Verständnisproblem gehabt haben. Sie haben bereits seit dem zweiten Schuljahr Deutschunterricht.
"Es ist nicht schwer, deutsch zu lernen", erklärte eine russische Schülerin auf Nachfrage des Oberbürgermeisters. Russisch zu lernen, sei dagegen viel schwieriger, weiß ihre deutsche Austauschpartnerin.
Giulia Coda
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