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Mehrfache Kosten


Stuttgart 21 als Schildbürgerstreich entlarvt

22.11.2010 (jnl)
Bei den laufenden Schlichtungsrunden zu "Stuttgart 21" (S21) saß Prof. Dr. Wolfgang Hesse als Sachverständiger mit am runden Tisch. Im Interdisziplinären Seminar (ISem) informierte er am Montag (22. November) im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität über seine Erkenntnisse.
Nur den Stand der Entwicklungen bei S21 zu referieren, war Hesse nicht genug. Sein Vortrag "Milliarden für Schilda 21 - Großprojekte der Bahn" befasste sich daher mit vergleichenden Analysen der Prestigeprojekte der Deutschen Bahn AG (DBAG) in den letzten 40 Jahren.
Sowohl die technische Machbarkeit und Funktionalität als auch die Wirtschaftlichkeit und Fahrgastfreundlichkeit der wichtigsten Streckenausbau-Projekte der Bahn wurden dabei eingehend untersucht.
Das laut Regierungserklärung zur großen Bahn-Reform von 1994 verkündete zentrale Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bekommen, sei grandios gescheitert, kritisierte Hesse. Von den eingesetzten Unternehmensstrategien habe einzig die Regionalisierung positive Ergebnisse gebracht.
Die Schrumpfung des Streckennetzes um weitere 17,4 Prozent in den letzten 20 Jahren sei skandalös, monierte der Kritiker. Kein anderes EU-Land habe vergleichbar gehandelt.
Der Verkehrsträger Bahn habe seinen Anteil am Personenverkehrsaufkommen trotz erheblicher investiver Gelder des Bundes nur mininmal steigern können. Von 6,5 Prozent im Jahr 1992 sei es statistisch auf 7,3 Prozent Anteil im Jahr 2007 gestiegen.
Eine Grafik zeigte alle großen Fernstreckenausbauten seit den 70er Jahren im direkten Vergleich. Es fiel stark auf, dass die Kostenschätzungen zu Baubeginn im Durchschnitt 1,5 bis 1,7 mal niedriger lagen als die später tatsächlich abgerechneten Baukosten.
Hesse kommentierte, dass S21 ohne manipulative Schönfärberei der Zahlen niemals durch die amtliche Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgekommen wäre. Alle Nutzenerwartungen bezüglich Fahrtzeitgewinn beruhten ohnehin einzig auf der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm.
Eine vernünftige Planung hätte demnach diese Neubaustrecke vordringlich verwirklicht, um danach weiterzusehen, ob man sich den Bahnhofsausbau S21 später leisten könne
Die Entscheider bei diesem Schildbürgerstreich hätten es jedoch genau umgekehrt gemacht. Sie hätten den Esel von hinten aufgezäumt.
Dabei habe die Deutsche Bahn ursprünglich vertreten, dass das Projekt S21 frühestens 2017 finanzierbar sei. Da habe dann die Landesregierung von Baden-Württemberg aufgetrumpft, sie übernehmen die Kosten der früheren Realisierung in Vorfinanzierung.
Einer Folie mit S21-Pro-Argumenten stellte der Informatiker eine deutlich längere mit Contra-Argumenten gegenüber. Die meisten Punkte der S21-Befürworter widerlegte er mit dem Florett klarer logischer Widersprüchlichkeits-Nachweise.
Zum Beispiel gebe es durch S21 eindeutig keinen Fahrtzeitgewinn. Statt eines verbesserten Verkehrsflusses entstehe eine furchtbare Verschlechterung der Umsteigemöglichkeiten und Fahrplan-Verlässlichkeit für die meisten Fahrgäste.
Besonders für den Regionalverkehr komme es zu einer großen Zahl technisch hochbrisanter Verkehrsführungen und stark verschlechterter Verbindungen. Ein integraler Takt mit vernünftigen Umsteigemöglichkeiten ließe sich mit den - nach S21 von 17 auf acht verringerten - Gleisen im Stuttgarter Hauptbahnhof überhaupt nicht verwirklichen.
Hesse nannte S21 daher einen Scheideweg der deutschen Bahn- und Verkehrspolitik. Die Milliarden für Schilda21 seien auf Sand gebaut.
Den alternativen Planungsvorschlag der S21-Gegner namens Kopfbahnhof 21 (K21) betrachte er als eine vernünftig durchgerechnete Variante. Wenn man hingegen die Kosten der Neubaustrecke samt S21-Bahnhofsumbau realistisch hochrechne, müsste von jedem Fahrgast pro Fahrt ein Aufschlag von rund 50 Euro kassiert werden. Falls man die realen Kosten wieder hereinholen wolle und müsse, sei das bedauerlicherweise so.
Hesse wäre nicht zufrieden, wenn er nicht sein persönliches Lieblings-Zukunftsprojekt "Bürgerbahn 2025" aktualisiert und als ideale Lösung erneut vorgestellt hätte. Für nur 15 bis 20 Milliarden Euro sollten Verbesserungen der deutschen Bahnstrecken und -Takte möglich sein, die dem Beispiel der Schweiz nacheiferten. Mit einer Wiedereinführung der abgeschafften Interregio-Linien wäre so viel für die Fahrgastfreundlichkeit zu gewinnen, schwärmte er.
Die Schlichtung des S21-Konflikts durch Heiner Geissler nannte Hesse ein "Lehrstück in lebendiger Demokratie". Es sei so verflixt selten zu erleben, dass sich die Zivilgesellschaft und die etablierten Politiker auf Augenhöhe wie dort am Runden Tisch träfen. Er wünsche sich als nächstes eine solche Schlichtung im Atomstreit.
Aufgrund des detailreichen und mit vielen Grafik-Folien veranschaulichten Themas sprach Hesse bis 19:45 Uhr. So blieb nur eine Viertelstunde für die Fragerunde. Wer dann noch offene Fragen hatte, konnte zur Nachbereitung in eine Gaststätte mitgehen.
Jürgen Neitzel
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