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Viel Spottlust


Wenzel vertrieb den Novemberregen-Blues

12.11.2010 (jnl)
Mit bildmächtigen eigenen Liedern und witzig-scharfsinnigen Zwischenmoderationen sorgte der Berliner Chansonnier Hans-Eckardt Wenzel am Donnerstag (11. November) für gehobene Stimmung. Bei der Vorstellung seiner aktuellen CD "Kamille und Mohn" in der Waggonhalle kamen trotz Dauerregens und Sturmwinds rund 100 Besucher.
Wenzel ist ein hochkarätiger Musiker und Kabarettist, aber nach wie vor - mangels Fernsehpräsenz - nur den Szene-Kennern vertraut. Er hat den höchsten deutschen Folkmusik-Preis "Ruth", den Deutschen Kabarett-Preis und viele weitere Auszeichnungen erhalten. Sieben aus seinem runden Dutzend eigener CDs haben einen "Preis der deutschen Schallplattenkritik" bekommen.
Er sei abonniert als "Faschingsschreck" kommentierte der Songpoet launig die Tatsache, dass er seit 2008 nun schon zum dritten mal zum Karnevalsauftakt-Datum in der Waggonhalle gastierte. Die graue Zeit sei die allerbeste Zeit zum kreativ Sein.
Ironischerweise trug der Sänger einen legeren, anthrazitgrauen Anzug und darunter ein T-Shirt. Hochgewachsen, kräftig und langhaarig stand er mit viel Präsenz auf der Bühne. Man ist fast verwundert, dass zu diesem Mann eine so leise, helle Singstimme gehört.
"Grau ist ja das deutsche Schwarz", schoss er eine seiner spitzen Anmerkungen ab. Schunkeln sei die deutsche Antwort auf den Salsa-Tanz. Selbst die Erotik sei hierzulande gemäßigt. Bosheit und Melancholie sind bei Wenzel zwei Seiten der gleichen Medaille.
Sein zweites Lied "DAX" war ein satirisches Spottlied auf all die Banker und Bailouts, die den Zeitgenossen das Leben sauer machen. Auf dem Akkordeon intonierte Wenzel dazu die Melodie von "Der Mond ist aufgegangen" nach Matthias Claudius.
Lange habe er nachgedacht, worin die deutsche Identität bestehe, erklärte der 55-jährige Liedermacher verschmitzt. "Wir Deutschen wollen immer weg und bleiben dann doch immer hier."
Für "Mignons Lied - Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?" - unterlegt mit einem Piano-Walzer- war das eine unwiderstehliche Überleitung. Der ganze Saal lachte.
Das Titelstück der soeben neu herausgekommenen CD "Kamille und Mohn" erwies sich als ein Nachsinnen über die ständigen Rhythmenwechsel im Leben. "Lautsein und Stille, Klarsein und sich heilen" lösen einander ständig ab wie Aus- und Einatmen. Mohn und Kamille sind dafür nur Metaphern.
Der "Dank-Choral" ist ein älteres Stück über den - in der einstigen DDR exzessiv betriebenen - Gestus öffentlichen Dankens. Doch hatte Wenzel eine neue Strophe angehängt, die das Lied - "Danke Porsche, Opel, Merkel" - in die Gegenwart fortschreibt. Auch die "Banane" bekam ein lustvolles, eigenes Spottlied.
Ohnehin sind die Deutschen in Wenzels Blick zu sehr "Halb und halb". "Welchen verheerenden Einfluss doch das Bewusstsein auf das Sein ausübt", beobachtete er zutreffend.
Sind denn nicht auch "unsere Regierungs-Typen ein perfektes Operettenpersonal"? Da gebe es die "Unschuld vom Lande" Angela Merkel, den gel-frisierten bayrischen Baron Carl-Theodor zu Guttenberg, das Waisenkind aus Vietnam Philipp Rösler. Das sei prima "Daily Soap", um die Bürger einzuseifen.
Altersmilde werde er, sinnierte Wenzel laut. In den Zeilen aus früheren Jahren sei mehr Zorn spürbar. Woher komme das nur? Die Misere von heute sei doch nicht objektiv besser? "Als Ältere sehen wir das Elend nicht mehr so scharf", lautete sein Urteil.
Wenzel ist gewiss kein Ostalgiker, der den DDR-Zeiten nachtrauert. "Partei und Format - das schließt sich gegenseitig aus", sagte er mit Nonchalance. Und der ganze Saal lachte mit.
Fünfzehn eigene Chansons sang der Liedermacher vor der Pause. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit folgten danach weitere sieben. Die meist blitzgescheiten, bissfesten Kabarett-Passagen dazwischen nahmen an diesem Konzertabend deutlich mehr Raum ein.
Bei jedem Musikstück wechselte Wenzel das Instrument. Ein Lied intonierte er mit Akkordeon, danach eines zur Akustik- oder E-Gitarre, schließlich eines am Flügel.
Die Arrangements auf der "Quetschkommode" wie an der Gitarre sind überwiegend einfach gehalten. Einzig am Klavier hörte man von diesem erfolgreichen Musiker und Gedichte-Vertoner an diesem Abend virtuose Ragtime- und Romantik-Klangspielereien.
Die Lügen der "Santa Statistika" sind diesem unbestechlichen Beobachter deutscher Zustände ebenso ein Lied wert wie seine "Lebensreise" oder die eigenen Bemühungen um "Schöner Lügen". Aus seiner Vertonung des Gedichts "Beigeben" von Theodor Kramer bleibt ebenfalls ein schöner Aphorismus im Gedächtnis: "In dem, was du verlangst, gib niemals bei!"
Zwei Zugaben ließ der ermüdete Songpoet sich vom anhaltenden Applaus abringen: "Kampers Trinklied" und auf Zurufen aus dem Publikum "Herbstlied". An diesem Abend gab es viel zu lachen, schöne originelle Lieder und einen erzählfreudigen Kabarettisten. Man darf sich auf das nächste Konzert mit Wenzel in ein bis zwei Jahren am gleichen Ort schon jetzt freuen. Live ist der Mann doch weit eindrücklicher als wenn man nur eine Tonkonserve hört.
Jürgen Neitzel
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