06.11.2010 (jnl)
Was geschieht eigentlich, wenn die Erwartungen des Publikums voll gekontert werden? Mit der Ein-Mann-Performance "Woyzeck" von Boris Nikitin und Malte Scholz nach Georg Büchners gleichnamigem Dramentext wurde am Freitag (5. November) in der "Black Box" des
Hessischen Landestheaters Marburg am Schwanhof die Probe aufs Exempel gemacht.
Mehrere gymnasiale Oberstufen hatten die Chance genutzt, die - bei Deutschlehrern beliebte - Lektüre einmal hautnah zu erleben. So lag der Altersschnitt bei etwa 19 Jahren.
Die Premiere war restlos ausverkauft. Nach Angaben der Theaterkasse werden auch die nächsten Vorstellungen ausverkauft sein.
Geboten wurde ein Stück Experimentier-Theater. Statt die bekannte Geschichte von der Eifersuchts-Bluttat einer geschundenen sozialen Randexistenz vorzuspielen, wurden die Zuschauer zum Diskurs herausgefordert.
Beim Betreten der Studiobühne erwartete den Besucher ein mit zahlreichen herabhängenden schwarzen Kabeln und Bodenscheinwerfern bestückter Bühnenraum. Man hätte sich in einer Welt wie in den Action-Thrillern "Matrix" wähnen können.
Ein Schreibtisch mit einem Gettoblaster darauf markierte den einzigen Ruhepunkt für das Auge. Ein Endzwanziger stellte sich unversehens nahe vor die Zuschauer-Sitzreihen und begrüßte die Anwesenden. Das Publikum glaubte, sich in einem Prolog zu befinden, bis es ihm dämmerte, dass das alles schon zum Stück gehörte.
Das Woyzeck-Drama wurde historisch erklärt und philosophisch interpretiert. Die Problem-Aspekte der Sprache, der Körperlichkeit und der juristischen Zurechnungsfähigkeit wurden benannt und analysiert. Im Zuschauerraum machte sich Verwunderung über diese Herangehensweise breit. Dann dunkelte die Lichtregie allmählich ab.
Der Darsteller Malte Scholz wanderte durch die Tiefen des Bühnenraums. Mit einem mal griff er sich ein mobiles Nebelwerfer-Gerät und begann, Kunstnebel-Wolken in die Stuhlreihen zu blasen. Rasch ließ er wieder davon ab.
Die ganze Zeit spielte romantisch-klassische Musik mit Klavier und Streichern. Zugleich ertönte im Hintergrund ein elektronisches Dauer-Wummern.
Scholz kniete sich vor einen der Boden-Scheinwerfer und ging mit dem Gesicht direkt hinein, als wolle er hineinkriechen. Lange hielt er das nicht aus.
Von einem Leuchtschild "Ruhe" in Weiß auf feuerrotem Hintergrund entfernte er die Abdeckung. Er raufte sich die Haare und starrte nach oben.
Dann las er laut aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) vor. Dabei blätterte er die Seite 10 über die Vollendung der Geburt als Beginn der Rechtsfähigkeit sowie auf Seite 20 den Abschnitt über die Definition einer juristischen Person auf.
Scholz nahm dann an jenem Schreibtisch Platz und begann, mit dem kleinen gelben Reclam-Textbuch Schlüssel-Szenen aus Büchners Textvorlage zu skizzieren. Dabei hielt er sich an die überlieferte Urfassung des Woyzeck.
"Stich, stich die Woyzecke!" Ist es tatsächlich so, wie behauptet, dass ein Angehöriger der sozialen Schicht, die keine finanziellen Mittel besitzt, einen Rechtsstreit zu führen, faktisch rechtlos ist?
Am Gettoblaster wurde das Radio eingeschaltet. Zu hören war ein Beitrag über Werner Herzogs Film "Woyzeck" von 1979. Klaus Kinski spielte darin die Hauptrolle. Gestellt wurde die explizite Frage: "Was ist der Mensch - ohne Menschenwürde?".
Nach 40 Minuten Ein-Mann-Performance brach der Darsteller ab, um gemeinsam mit der Regieassistentin Janina vom Marburger Theater eine 10-minütige Publikumsdiskussion zu führen. Beide setzten sich einen Meter vor die erste Zuschauerreihe und baten um inhaltliche Fragen zur Aufführung.
"Für welches Zielpublikum ist diese Bühnenproduktion eigentlich gedacht?", fragte eine ältere Besucherin. "Und warum nennt man das Theater und nicht Diskurs?"
Scholz antwortete zügig und routiniert, dass keine vorgefertigte Ideologie dahinter stehe. Die Konzeption sei offen und interaktiv angelegt.
Das Publikum könne und solle sich einbringen. Ein Glücksfall sei es gewesen, als bei einer früheren Aufführung ein Jurist die rechtsphilosophischen Themen energisch aufgegriffen hätte.
Ein weiterer Zuschauer monierte die düstere Atmosphäre und, dass sich die meisten im Publikum etwas ganz Anderes erwartet hätten. Scholz berief sich in seiner Antwort darauf, dass Georg Büchner ein Fragment hinterlassen hätte und dass diese Fassung eben etwas Anderes - Neues - daraus mache.
Nach zehn Minuten brach Scholz die Diskussion wieder ab. Hinter dem Schreibtisch setzte er Kopfhörer auf und wiederholte mit lauter Stimme die wichtigsten Kritikpunkte aus der Diskussion.
Mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass ein Vertrauen das andere wert sei, referierte er den eigenen Lebenslauf. Nach dem Abitur gab es darin eine zehnmonatige Phase Bundeswehrdienst und eine abgeschlossene Ausbildung zum Bürokaufmann.
Als er nach bestandener Prüfung ein Jahr arbeitslos gemeldet war, hatte er Suizid-Tendenzen und verbrachte eine kurze Phase in der Psychiatrie. Nach Überwindung dieser Krise absolvierte er an der
Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) ein Studium der Angewandten Theaterwissenschaften. Das führte ihn in diese Aufführung. Dem Intendanten Matthias Faltz dankte er für die Einladung.
Die glaubwürdig vorgetragene Vita des Darstellers zeigte zumindest klar auf, dass es nicht um eine provokative Missachtung der Publikumsansprüche ging. Dennoch stellte sich die Frage, ob eine Mehrheit der Zuschauer mit dem Gebotenen wirklich etwas anfangen konnte. Sind juristische Fragen wie die Definition einer "juristischen Person" und der "Zurechnungsfähigkeit" wirklich Themen, denen sich Nicht-Juristen freiwillig in einem Diskurs-Projekt im Theater stellen möchten?
In der Publikumsdiskussion wurden berechtigte Zweifel daran laut. Sie wurden von Scholz oder der Regieassistentin Janina keineswegs angemessen beantwortet oder gar ausgeräumt. Wie weit die mutige Entscheidung des Intendanten für dieses Grenzgänger-Gastspiel vom Publikum bei der "Abstimmung mit den Füßen" mitgetragen wird, muss die Zukunft erweisen.
Jürgen Neitzel
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