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Wahr oder wahrhaftig


Melinda Nadj Abonji las in der Alten Aula

02.11.2010 (fjh)
"Man muss sich ein Schicksal erst mal erarbeiten." Diesen Satz lässt Melinda Nadj Abonji den Vater ihrer Ich-Erzählerin in dem preisgekrönten Roman "Tauben fliegen auf" sagen.
Bei einem Spiegel-Gespräch stellte die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2010 in der – nicht ganz gefüllten - Alten Aula am Montag (1. November) ihren neuen Roman vor. Unter der Fragestellung "Warum wir Romane lesen sollten!“ interviewte die Spiegel-Redakteurin Claudia Voigt sie zur "Wirkungsmacht eines Romans" und der "Suche nach den passenden Worten".
"Ich bin eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt", charakterisierte die Autorin sich selbst. Angesichts ihrer eigenen Biografie findet sie Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ziemlich unangebracht.
Abonji ist in der Vojvodina aufgewachsen. 15 Prozent der Bevölkerung dort sind Ungarn. Daneben leben dort Serben, Kroaten, Roma und Rutenen.
"Der blinde Nationalismus ist verantwortlich für Elend und Krieg", resümierte Abonji. Ihr preisgekröntes Buch setzt sich genau mit dieser Problematik auseinander.
Die Ich-Erzählerin lebt in der Schweiz. Ihre Eltern betreiben dort eine kleine "Cafeteria".
Das Buch beschreibt einen Besuch bei Verwandten in der Vojvodina mit der überbordenden Gastfreundschaft und dem drohenden Krieg im Hintergrund ebenso wie den missglückten Einbürgerungstest der Eltern in der Schweiz. Berührende Bilder veranschaulichen die Gefühle der Erzählerin wie auch der anderen Beteiligten.
Beim Verwandtenbesuch in der Vojvodina schwärmt der Vater von der Schweiz, wo immer Ordnung herrsche. Dort hingegen schwärmt er vom Quark aus der Heimat, der viel körniger und besser sei als anderswo. "Die Ungarn machen den besten Quark", schwärmt er. Die Ungarn in der Vojvodina könnten es sogar noch besser!
"Ihre Sprache ist sehr melodiös", meinte Voigt. Mitunter reichen die langen Sätze Abonjis über ein Drittel einer Druckseite. Dennoch wirken sie nicht schwerfällig, sondern sehr elegant.
Die Melodiosität ihrer Sprache erklärte Abonji mit ihrer Liebe zur Musik. Bei Workshops bringt die Musikerin jungen Leuten die Literatur nahe, indem sie gemeinsam mit einem Onomatopoeten rhythmische Lautspiele vorträgt und die Teilnehmenden dann zum Mitmachen anregt.
Die klassische Schulausbildung hingegen sei beinahe schon kontraproduktiv, meinte sie. Als Dozentin habe sie in Zürich angehende Lehrkräfte ausgebildet.
"Die saßen schon mit dem Rotstift da", beklagte sie. "Ich war an der ganzen Hochschule die Einzige mit Migrations-Hintergrund. Hinterher in den Klassen sind es aber durchaus 25 Prozent der Schüler, die nicht aus der Schweiz stammen!"
Literatur ist für Abonji eine persönliche Form der Geschichtsschreibung. Zwar habe auch sie in ihrem Buch nicht die eigene Biografie aufgeschrieben, sondern vieles hinzugedichtet oder weggelassen. Doch habe sie dabei nur Geschichten eingebaut, die sich so hätten ereignen können.
Abonji unterschied zwischen "Wahrheit" und "Wahrhaftigkeit". Wichtig sei, dass ein historischer Roman sich nicht in wilde Spekulationen versteige, sondern das Leben der Menschen möglichst anschaulich schildere.
Zum Abschluss der Diskussion mit dem Publikum zitierte Abonji die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller: Schicksale würden von der Geschichtsschreibung allenfalls gezählt, aber niemals gelebt!
Franz-Josef Hanke
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