31.10.2010 (jnl)
In der Ära vor dem Intendantenwechsel beim
Hessischen Landestheater Marburg standen junge Gegenwartsstücke eher selten auf dem Spielplan. Mit dem Ossi-Drama "Wir sind immer oben" des 28-jährigen Berliner Autors Dirk Laucke wehte ein neuer Wind. Es feierte am Samstag (30. Oktober) auf der Studiobühne "Black Box" Premiere.
Zu diesem Griff kann man Faltz nur beglückwünschen. Die Milieustudie um zwei junge Männer, die in einer ostdeutschen Kleinstadt einen eigenen CD-Laden aufmachen, hat Wucht und kam gut rüber.
Das Stück zeigt eine Existenzgründung als den versuchten Ausbruch aus der eigenen ökonomischen Misere. Deutlich wird der heikle soziale und familiäre Mikrokosmos, in dem die Akteure Sven und Stamm sich bewegen. Kennzeichnend für das Stück ist eine Sprache, die den realen Menschen "aufs Maul schaut".
In der Marburger Aufführung wurde das 85-Minuten-Stück von einer großen Leistung der Schauspieler getragen. Jede und jeder der fünf Darstellenden kam körpersprachlich und dramaturgisch gut "rüber". Bis in die bierselige Proleten-Gestik hinein waren die gezeigten Charaktere in sich glaubwürdig.
Ausgangspunkt des Plots ist eine Randale-Szene vor der Disko, bei der Sven und Stamm nicht hereingelassen wurden. Aus Wut darüber wirft einer von ihnen mehrfach Pflastersteine.
Er trifft einen jungen Neonazi am Kopf. Im Verlauf des Stücks erfährt man, dass der Getroffene im Koma liegt und gegen Ende des Stücks gestorben ist.
Die Gewissensbisse Svens über die eigene Tat ziehen sich als ein roter Faden durch das Stück. Ein weiterer durchgängiger Faden ist die titelgebende optimistische Haltung der jungen Ossis.
"Selbst wenn wir unten sind, sind wir unten oben", lautet einer der Sprüche der beiden. Sie mobilisieren sämtliche Ressourcen, an die sie herankommen.
Svens Mutter Tine (Christine Reinhardt) schwatzen sie deren Gartenlaube als Geschäftslokal ihres Plattenladens ab. Vater Tilo (Thomas Streibig) wird eingespannt als Werbematerial-Verteiler. Die junge Lokaljournalistin Corinna (Franziska Knetsch) wird erotisch eingebunden, damit sie für Medienunterstützung sorgt.
Nebenbei erzählt Lauckes Stück viel über die heikle psychologische Lage der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern. Visualisiert wird das durch Folienwände, gegen die die Protagonisten krachen und durch ständiges Biersaufen aller Beteiligten.
Aus Hass auf Svens Vater Tilo, der sie sitzen gelassen hatte, zerstört Mutter Tine den Laden. Der Toyota Tilos, der seinen ganzen Stolz ausmacht, wird von der eigenen Sippschaft absichtlich beschädigt. Solidarität untereinander wird ständig beschworen; aber sie schaffen es nicht, sie wirklich zu leben.
Wie man sieht, passiert in diesem dynamischen Stück eine Menge. Der jungen Regisseurin Alexandra Roscha Säidow gelang es, aus einem Hexenkessel widerstreitender Emotionen einen hoch spannenden Theaterabend zu formen. Die "verrückten" Ossis und ihr Aufbäumen erzeugten einen großen Sog.
Eine wichtige Rolle spielten die Musikeinlagen. Der Song "Verschwende deine Jugend" von DAF traf den Nerv. Genau das ist es, was Sven (Stefan A. Piskorz) und Stamm (Daniel Sempf) mit der punkigen "Do-It-Yourself"-Haltung (DIY) verkörpern.
"Komm, wir lassen uns erschießen" von Ideal markierte passgenau den depressiven Hang der Akteure. Was erstaunlicherweise fehlte, war ein Stück aus der CD "Kamikaze-Herz" von Bosse.
Das Bühnenbild von Paul Faltz kam mit bemerkenswert wenig Zutaten aus. Zwei lange Turnhallenbänke, eine Leuchtröhre, ein Standmikrofon und zwei volle Kästen Bier, die am Ende leer sind, reichte als Ausstattung. Die bespielbaren Wandelemente aus transparenten Folien waren ein großartiger Rahmen.
Warum der Souffleur (Bernd Kruse) mit auf die Bühne gesetzt wurde, erschloss sich nicht unbedingt. Keiner der exzellenten Schauspieler bedurfte seiner. Besonders die drei Hauptdarsteller Piskorz, Sempf und Knetsch fesselten das Publikum durch ihre Bühnenpräsenz. Doch auch die Bier-Szene und der Zerstörungswahn, den Reinhardt bot, wird im Gedächtnis bleiben.
Ein Stück über die Gegenwarts-Misere Ostdeutschlands hat im 30. Jahr der deutschen Wiedervereinigung allemal seine Berechtigung. Mehr als alle Meldungen über Neonazis und Abwanderungs-Statistiken erlaubt Lauckes Stück einen tiefen Blick in deutsche Seelenlagen. Übertragbar sind die dortigen Zustände und Gemütslagen allerdings nicht wirklich auf die westdeutschen - oder gar Marburger - Verhältnisse.
Das Premieren-Publikum in der beinahe ausverkauften "Black Box" war begeistert über die stramme Leistung der fünf Schauspieler. Fünf, sechs "Vorhänge" dauerte verdientermaßen der stürmische Schlussapplaus. Gegenwartsstücke wie dieses ziehen!
Jürgen Neitzel
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