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Grandiose Unterhaltung


Susanne Bard verkörperte den Mythos Marlene

16.10.2010 (jnl)
Eine fabelhafte Schauspielerinnen-Leistung kann einen verblassenden Diven-Mythos neu zum Glänzen bringen. Eben das gelang Susanne Bard als "Marlene Dietrich" am Freitag (15. Oktober) auf der "Bühne" am Schwanhof. Die Marburger Premiere des Gastspiels "The Kraut" von Dirk Heidicke war ein grandios unterhaltendes Musiktheater-Erlebnis.
Zu Beginn des Stücks sieht man die Dietrich als hochbetagte, bettlägrige Person in ihrem Apartment in der Pariser Avenue Montaigne. Der Bühnenraum ist eine pittoreske Gedenkstätte voller Fotos und Zeitungsausschnitte aus ihrer großen Vergangenheit. Sie träumt und schwelgt in Erinnerungen.
Nur ab und zu nimmt Dietrich per Telefon mit der Außenwelt Kontakt auf. Ihre Pläne, wie sie den Paparazzi noch nach ihrem Ableben ein Schnippchen schlagen will, sind äußerst skurril. Kein Foto ihres Alters oder Tods soll ihren Mythos als Diva gefährden.
Die Erinnerungen an ihre Jahre als Truppenunterhalterin der US-Armee in der Endphase des Zweiten Weltkriegs bewegten sie besonders intensiv. "Captain Dietrich" kämpfte mit Inbrunst gegen die Nazis und liebte "ihre" jungen US-Soldaten, deren Kampfmoral sie hochhalten half.
Von ihnen sagt sie, es seien junge Kerle, die sie "noch nicht zu Ochsen gemacht haben". Leidenschaft war ihr Lebenselixier.
Die Männer - und wie es frau gelingt, sie verrückt nach sich zu machen - das war ein beherrschendes Thema in Dietrichs Leben. Von sich selbst sagte sie, dass Langeweile sie töte und sie immer verliebt sein müsse.
Sobald eine Affaire nicht mehr spannend für sie war, wandte sich die "männermordende" Diva einem attraktiveren Verehrer zu. Es gab davon immer genug.
Bard verkörperte die Solo-Rolle des ebenso sinnlichen wie scharfsinnigen Filmstars mit viel Courage und noch mehr Können. Als sei es die Rolle ihres Lebens, parodierte sie Dietrichs Verehrer und Rivalinnen. In einem Moment mimte sie die Hochbetagte und im nächsten den Weltstar auf der Höhe seines Ruhms.
Zwischen ihren beiden Geniekult-Altären - rechts auf der Bühne ein großes Hemingway-Portrait und links eines von Erich-Maria Remarque - krabbelte Bard mutig auf allen Vieren hin und her. Wenn die Dietrich mal jemand als "Genie" verehrte, dann tat sie es konsequent. Das drückte diese Szene aus.
Regisseur Klaus Noack hatte mit Bard eine Fülle an solchen tollen, bildkräftigen Szenen erarbeitet. Die Zuschauer erlebten etwa gebannt mit, wie die Dietrich in einer stolzen und lustvollen Pose das Angebot, in Nazi-Deutschland eine herausragende Star-Laufbahn zu übernehmen, abblitzen ließ.
Stammelnd und auf den Knien rutschend, parodierte Bard den Hitler-Abgesandten Rudolf Hess. Dann stieg sie aufs Bett und verkündete hoch aufragend, dass sie niemals zurückkehren werde, solange Adolf Hitler in Deutschland herrsche.
Einen großen Raum nahmen die Gesangsstücke ein. Sie wurden indes nicht als Nummernrevue aneinandergereiht. Vielmehr dienten sie dazu, den emotionalen Gehalt der dargestellten Szenen zu verstärken.
Die Schauspielerin Bard verfügt über eine kraftvolle und gute Gesangsstimme. Wenn sie sang "In den Ruinen von Berlin, fangen die Blumen wieder an zu blühn", stiegen die Bilder von den Trümmerlandschaften des Nachkriegsdeutschlands vor dem inneren Auge auf. Bard sang auf Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch gleichermaßen akzentfrei und bestrickend.
Auf dem unauffällig seitlich ins Bühnenbild integrierten Flügel begleitete Jens-Uwe Günther sie mit Akkuratesse. In geringem Maße wurde der würdevolle alte Herr in Spielszenen einbezogen. Seinen eigentlichen Beitrag im Stück leistete er als musikalischer Leiter. Ihm ist die großartige Auswahl der Chansons und ihre makellose Einstudierung zu verdanken.
Überraschenderweise nutzte Bard die etwas ausgedehnte Abrechnung mit jeder einzelnen potenziellen Rivalin um die "Schauspielkrone" der Nazi-Ära, um in Direktkontakt zum Publikum zu gehen. Das verlieh dem Ganzen ein wenig Nachtclub-Feeling. Zweifellos war die Dietrich so hedonistisch, dass es noch stimmig war, sprengte aber ein bisschen den Zusammenhang des Plots.
Laut dem Theaterstück kreiste Marlene Dietrichs Leben um fünf oder sechs zentrale Themen: Erfolg auf der Bühne, Männer, Geniekult, Antifaschismus, Leidenschaft und Erhalt ihres selbst geschaffenen Mythos. Immerhin verstand man nach dieser Aufführung, wieso dieser Filmstar zu einer Ikone der Schwulen und einem Idol und Rollenmodell der selbstbewussten, hedonistischen Frauen werden konnte.
Gerne hätte man noch etwas mehr erfahren über die Brüche in Dietrichs Leben. Da war etwa jene Phase, als sie in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zum Kino-"Kassengift" verketzert wurde. Damals musste sie sich als Gesangsstar noch mal neu erfinden. Auch warum sie ihren Freund Ernest Hemingway, der ihren Spitznamen "The Kraut" prägte, ständig "Papa" nannte, erfuhr man nicht. War es aus Spaß oder Ernst? Das alles einzufordern, das wäre allerdings am Ende ein anderes Stück.
Was Regisseur Noack, der Musiker Günther und die unglaublich Präsenz ausstrahlende Susanne Bard aus dem vorliegenden Stück gemacht haben, war ein fulminantes, rauschhaftes Theater-Erlebnis. Schon während der - ohne Pause gespielten - 105 Minuten gab es immer wieder Szenenapplaus und am Schluss nicht enden wollenden Beifall. Der auf die Bühne geholte Autor Dirk Heidicke freute sich königlich.
Bei dieser Marburger Premiere war die seit 2004 auf deutschsprachigen Bühnen tourende Produktion "The Kraut" bei weitem nicht ausverkauft. Wenn das Presseecho und die Mundpropaganda ihre Wirkung tun, sollte der Zuspruch des Publikums bei den weiteren Aufführungen deutlich höher ausfallen. Denn dieses "Juwel" der neuen Spielzeit hat sicher genug Schwung, musikalische und visuelle Kraft, um ein Dauerbrenner zu werden.
Vorstellbar wäre sogar, eigene Schul-Aufführungen mit diesem Stück zu gestalten. Ein Stück, das derart um Sexappeal, Hedonismus und Selbstbehauptung kreist, stellt einige für die Jugendlichen zentrale Themen in den Brennpunkt.
Nebenbei erfahren sie eine Menge über Historisches. Und die frechen Chanson-Texte der Dietrich stießen selbst im Unterricht allein wegen ihrer Inhalte auf Interesse.
Jürgen Neitzel
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