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Eine Menge Argentinien


Ein Star der Buchmesse gastierte im TTZ

11.10.2010 (jnl)
Das Gastland der Frankfurter Buchmesse wurde beim Marburger Krimi-Festival vom "Shootingstar" der argentinischen Literatur repräsentiert. Claudia Pineiro stellte am Sonntag (10. Oktober) im Technologie- und Tagungszentrum (TTZ) ihren Roman "Die Donnerstagswitwen" vor.
Ihr Zug aus Frankfurt hatte wegen eines Suizid-Alarms erhebliche Verspätung. Die Lesung ließ das die rund 30 Besucher glücklicherweise rasch vergessen.
Das lag ganz wesentlich an der Romanistin und Übersetzerin Kerstin Brandt, die bei der Vermittlung der Autorin und ihrer Bücher eine exzellente Leistung zeigte. Die Schriftstellerin selber sprach nur Spanisch, das dafür aber in atemberaubenden Tempo.
Aus ihrem Debüt-Roman "Tuya" von 2003, der in Deutschlang 2009 mit dem Titel "Ganz die Deine" erschien, wurde eingangs eine Passage gelesen. Der originalsprachlichen Version folgte anschließend die deutsche Übersetzung. Das erlaubte, die Lautsprache und Eigenart der Autorin kennenzulernen.
Inhaltlich gab die Kostprobe Einblick in die Welt der bürgerlichen Frauen, für deren Sozial- und Innenleben sich Pineiro besonders ausgeprägt interessiert. Sichtbar wurde eine scheinbar perfekte "heile Welt", unter deren glatter Oberfläche sich schlimme Dinge wie Treulosigkeit, Mord und Selbstbetrug ereignen.
Das war zugleich eine ausgezeichnete Überleitung zum Swimmingpool, unter dessen spiegelnder Fläche am Beginn der "Donnerstagswitwen" drei männliche Leichen versunken sind. Es handelt sich um die Ehemänner von drei wohlhabenden Damen, die von dem Geschehen völlig überrascht werden.
Bislang lebten sie in Luxus in einer gut bewachten, umzäunten Wohnsiedlung für Reiche. Nichts Böses könne ihnen dort passieren, dachten sie. Doch die Design-Villa mit mehreren Schlafzimmern und Badezimmern, durch die das vorgelesene zweite Kapitel die Leser führt, ist keine Insel der Seligen.
Der Roman handelt von den 90er Jahren in Argentinien, erläuterte Pineiro. In Selbstsuggestion nahmen die Angehörigen der besitzenden Schichten Argentiniens an, sie seien reich und das werde auch so bleiben. Ab dem Jahr 2001 gab es jedoch ein böses Erwachen aus dieser Selbsttäuschung.
Eine Rückblende in das berufliche Ende des bisherigen Konzernfilial-Geschäftsführers Tano Scalia zeigte den ökonomischen Absturz. Daraus bestand die zweite Lese-Passage. Scalia ist später einer der drei Toten im Pool.
Zu Lebzeiten war der Manager indes keineswegs ein liebenswerter Typ. Pineiro legt Wert darauf, ihre Protagonisten mit vielerlei Schattierungen auszustatten.
Vor dem Etikett "Kriminalroman" habe sie dabei keinerlei Berührungsängste, betonte sie. Denn obwohl die Grundlinien des Genres von ihren Romanen erfüllt würden, gingen sie weit darüber hinaus. Ihre Bücher erzählten nicht nur eine Kriminalgeschichte, sondern böten eine psychologisch akkurate Gesellschaftsanalyse der jüngsten Vergangenheit.
Ihr drittes Buch, das auf Deutsch "Elena weiß Bescheid" titelt, hat soeben den deutschen "Liberatur-Preis" zuerkannt bekommen. Auch darin sind die Protagonisten weiblich und stammen aus der besitzenden Klasse.
Eine Konflikt-Beziehung zwischen Mutter und Tochter findet ihren vorzeitigen Abschluss, weil die Tochter sich erhängt. Doch die alte Frau glaubt nicht an einen Suizid und forscht genauer nach.
Auch hier ist die Kriminalhandlung aber nur vordergründig.
Tatsächlich geht es Pineiro nach eigener Aussage um das Gefangensein der zeitgenössischen Menschen in Körperbildern und Gewalterfahrungen. Die beiden - dem Buch vorangestellten Zitate von Thomas Bernhard - unterstrichen das nur.
In der Fragerunde kam zum Ausdruck, dass Pineiro scheinbar eine der wenigen Schriftstellenden ihres Landes sei, die nicht die Jahre der Militärdiktatur und ihrer Folgen thematisierte. Sie antwortete, die zur Buchmesse ausgewählten Bücher überrepräsentierten jenes Vergangenheitsthema. Tatsächlich spiele es in der argentinischen Gegenwarts-Literatur längst keine so große Rolle mehr.
Von ihr selber gebe es zwei ältere Theaterstücke, die sich direkt mit diesem Thema befassten. In ihren Romanen hingegen beschäftige sie sich eher mit der Gegenwart und deren Problemen.
Auch die "Donnerstagswitwen" enthielten eine Menge Anspielungen auf gesellschaftspolitische Ereignisse. Da sei etwa die Explosion einer Munitionsfabrik in Cordoba zu nennen. Die sei offenbar gesprengt worden, um illegale Waffenexporte zu vertuschen, die aufzufliegen drohten.
Die wegen ihres erfolgreich verfilmten Bestsellers zur argentinischen Star-Literatin avancierte Schriftstellerin will allerdings auf keinen Fall eine vordergründig politische Autorin sein. Das stellte sie - sympathisch lächelnd - klar.
In ihren Büchern könne man vielschichtige Einblicke in ihr - von Europa aus fernes - Land gewinnen. Dabei zeige es sich, dass die allzumenschlichen wie die ökonomischen Muster ebenso in Island, Spanien oder Deutschland vorkämen - anders aber doch ähnlich wie in Buenos Aires.
Jürgen Neitzel
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