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Witzig


Jörg Juretzka bot eine humoristische Höllenfahrt

08.10.2010 (jnl)
Die Abgründe der Gesellschaft kriegt der Krimi-Autor Jörg Juretzka mit viel schwarzem Humor zu packen. Bei einer Lesung aus seinem Buch "Rotzig & Rotzig" brachte er am Donnerstag (7. Oktober) im Technologie- und Tagungszentrum (TTZ) das Publikum häufig zum Lachen.
Der schon mehrfach mit Medaillenrängen des Deutschen Krimi-Preises Ausgezeichnete ist damit eine erfrischende Ausnahmeerscheinung unter seinen Krimischreiber-Kollegen. Mit seinem Privatdetektiv Kristof Kryszinski verkörpert er das, was Schimanski unter den Tatort-Kommissaren war.
Juretzka war ursprünglich Zimmermann, bevor er auf Schriftsteller umsattelte. Noch bis in die Gegenwart übernimmt er mit seiner Holztechnik-Firma die Hälfte des Jahres über Aufträge. Die pusten den Kopf für das Schreiben frei, verriet er in der Fragerunde.
Mit Selbstbewusstsein verkündete der "Ruhri" aus Mühlheim an der Ruhr, dass er vierzig Minuten lesen werde. Es klang ein bisschen wie "Fasten your seat belts", was man auf Flügen hört. Tatsächlich nahm die Lesung schnell und aktionsreich Fahrt auf.
Der tatkräftige - aber materiell meist notleidende - Privatermittler Kryszinski übernimmt eine Stelle als Hausmeister in einem Hochhaus. Das Haus ist Teil eines sozialen Brennpunkts. Schon beim Einzug wird er von zwei halbstarken Jugendlichen mit versuchter Schutzgelderpressung konfrontiert.
Die Hausmeisterwohnung ist ebenso vermüllt wie das ganze Haus. Sein Vorgänger hat - ziemlich kurzfrstig gekündigt und von Obdachlosigkeit bedroht - sein Heil im Sprung vom Dach des Hochhauses gesucht. Traurige Zustände herrschen allerorten. Aber wenn Juretzka sie mit beträchtlicher Sprachgewalt und Sarkasmus aufspießte, reagierten die Zuhörer keineswegs deprimiert, sondern befreit lachend.
Detektiv Kryszinski entdeckt bald, dass die beiden jugendlichen Zwillingsbrüder keineswegs die Verursacher der Vorkommnisse sind. Anscheinend als Opfer einer Intrige landen sie als Jugendpflege-Fälle in der dubiosen Obhut einer reichen Luxemburger Familie. Kryszinski ist einem Kinderschänderring auf der Spur, der - wie im belgischen Kriminalfall Dutroux - bis in die wohlhabensten Kreise hinein reicht.
Juretzka las nicht nur zwei Passagen aus dem aktuellen Buch. Vielmehr fügte er noch je eine Szenenfolge aus den Vorgänger-Bänden "Der Willi ist weg" und "Prickel" hinzu.
Die dort geschilderte kurzfristige Belegschafts-Übernahme einer McDagobert-Filiale durch die Mitglieder der Rockergang "Stormfuckers" erwies sich als hochgradig komisch. Der Zusammenprall der Rocker mit den Tücken der Technik, einem quengelnden Kindergeburtstag sowie einer Busladung holländischer Hooligans ließ sich an Dramatik, Sprachgewalt und Slapstick kaum noch toppen.
Als Vorleser hatte der 55-jährige Autor wirklich Klasse. Sein Vortrag war bestens intoniert, rhythmisch und emotional mitreißend. Man merkte ihm an, wie lustvoll sein Verhältnis zur Sprache und zum Geschichtenerzählen ist.
Insgesamt ist mit dem aktuellen Buch schon der neunte Band der kohlpechrabenschwarzen Kryszinski-Serie erschienen. Der zehnte ist mit dem Arbeitstitel "Freakshow" für nächstes Jahr anvisiert. Noch ist dem Autor allenfalls die Ich-Erzähler-Perspektive, aber nicht die Hauptfigur langweilig geworden, gab er an. Der Fan-Kreis der temporeichen, witzigen Krimi-Reihe wächst weiterhin.
Bedauerlich war, dass zu diesem großartigen Vertreter der Krimi-Hochkomik - wohl wegen Überangebot und starker Konkurrenz - nur rund 20 Zuhörer gekommen waren. Man sollte nicht wieder Jahre vergehen lassen, bevor man ihn erneut einlädt. Per Mundpropaganda wird dann bei der nächsten Lesung wohl ein Mehrfaches an Besuchern an dem Genuss teilhaben.
Jürgen Neitzel
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