29.09.2010 (jnl)
Ungewohnten Disco-Rhythmen - samt Live-DJ - empfingen die Besucher beim Betreten des Bühnensaals. Der einmal im Jahr stattfindende Poetry Slam "Dead or Alive" bot am Dienstag (28. September) im Theater am Schwanhof ein paar Besonderheiten.
Vier aus Bayern und Nordrhein-Westfalen angereiste Champions der Slam-Szene traten an für die "lebenden Poeten". Vier Schauspieler verkörperten selbst gewählte "tote Dichter". Leider sah sich wegen immenser Arbeitsfülle nur ein einziges aktuelles Ensemblemitglied imstande anzutreten. Für die übrigen Plätze im "Club der toten Dicher" sprangen zwei frühere Ensemble-Persönlichkeiten und die New Yorker "Slam-Legende" Gary Glazner ein.
Eröffnet wurde der Wettkampf wiederum mit einem sogenannten "Opferlamm". Wie die beiden Moderatoren Lars Ruppel und Bo Wimmer erläuterten, ist der erste Auftretende beim Slam zu sehr benachteiligt. Als "Anheizerin" trat deshalb außerhalb der Wertung Theresa Hahl aus Marburg auf.
Die mit einer lustigen Wollmütze voll Buttons dekorierte Schülerin glich ihre geringe Körpergröße mit umso größerer Sprachgewalt aus. Zwei selbstverfasste lange Prosa-Gedichte trug sie ohne Ablesen oder Stocken mit enormer Verve vor. Besonders das zweite Poem, das von der Entzauberung des Blicks auf die Natur handelte, war grandios und brachte diesem Nachwuchs-Talent einen Riesenapplaus ein.
Nebenbei wurde der Einsatz der brandneu laminierten Wertungs-Kartensätze eingeübt. Eine "Eins" stände demnach für "trauriger Versager" und eine "Zehn" für "kommender Slam-Superstar". Die Auswahl der fünf Jury-Teilnehmer bot dem schlagfertigen Moderator Ruppel Gelegenheit, dem spontanen Sprachwitz der Ausgewählten auf den Zahn zu fühlen.
Die reale Dichter-Wettschlacht begann dann mit dem Münchner Mehrfach-Slamgewinner Moritz Kienemann. Der blond gelockte 21-Jährige präsentierte eine frei vorgetragene Beziehungsdrama-Rede. Für den gestenstarken und hochenergetischen Vortrag bekam er 25 Punkte.
In schickem schwarzem Dandy-Aufzug der 1920er-Jahre samt Spazierstock enterte "Kurt Tucholski"-Darsteller Tobias M. Walter die Bühne. Für die Schauspieler ist das Requisiten- und Technik-Verbot, das beim Slam normalerweise gilt, gelockert. "Tucho" brachte einen Prosa-Text über "Ehe ist Resignation" und das A-capella-Lied "Anna-Luise". Für seinen mutigen Vorstoß in das Kolorit einer untergegangen Epoche erhielt er 23 Punkte.
Franziska Holzheimer aus München machte ihrem Motto "Reisepoetin" mit ihrem Text "Von Windschatten und Fernweh" alle Ehre und erreichte ebenfalls 23 Punkte.
Der Schauspieler Peter Meyer toppte alles. Mit seinem atemberaubenden Aufritt als "Affe" brachte er das Publikum schier aus dem Häuschen. Als "Christian Benito Silvio Thilo Morgenstern" hielt er eine geifernde Unsinn-Entlarvungs-Rede in Lautsprache, die die Originale Benito Mussolini oder Thilo Sarrazin klar in den Schatten stellte. Die Jury gab ihm 27 Punkte. Das reichte für die Finalrunde.
Sulaiman Masomi aus Paderborn folgte mit einem gelesenen, äußerst selbstironischen Text über "Die Nase". Seinen eigenen stattlichen Gesichtserker rühmte er dabei als Cyrano de Bergerac überlegen und Omen des Penis. Man belohnte diesen humoristischen Mut mit 28 Punkten und Einzug ins Finale.
Als "Mystery Poet" - mit einer Papiertüte samt Augen- und Mundschlitzen über dem Kopf - startete Gary Glazner für die "toten Dichter". Wen er darstellen wollte, wurde nicht verraten. Vermutlich improvisierte er überwiegend. Für diese nicht ganz so prickelnde Leistung gab es 20 Punkte.
Der vierte und letzte Slam-Champion war Mischa-Sarim Verollet aus Bielefeld. Der mehrfache Buchautor las einen langen Text über skurrile Schulerlebnisse. Auch er erreichte mit 28 Punkten die Finalrunde.
"Sophie Scholl" verkörperte die mittlerweile in Frankfurt am Main lebende Ex-Marburger Schauspielerin Dominique Runzhausen. Ihr höchst moralischer Vortrag nach Texten von Flugblättern der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" schickte die Zuhörer in eine lange vergangene Zeit zurück. Das gab 25 Punkte.
Nach der Pause traten die drei Höchstplazierten Meyer, Masomi und Verrolet mit neuen Texten gegeneinander an. Der Vorjahressieger Meyer brachte eine Mixtur aus Zaimogluescher "Kanaksprak" und einem Minimal-Text von Robert Gernhardt. Masomi las einen Text über "Ü30-Parties", wo angeblich viele Frauen als tickende biologische Zeitbomben auf Opfer lauern. Der in Deutschland aufgewachsene Gibralta-Brite Verrolet las Freestyle.
Der Slam-Sieg fiel gemäß dem Vergleich des Applauses Sulaiman Masomi zu. Die anderen beiden erhielten von den Moderatoren einen gemeinsamen zweiten Platz zugesprochen.
Auch dieser Durchgang des "Dead or Alive"-Dichterwettkampfs war wieder sehr kurzweilig und Unterhaltung im besten Sinne. Die Slam-Moderatoren müssen sich allerdings dringend eine nachvollziehbarere Regelung des Sonderpunktes überlegen.
Den neuen Verantwortlichen des Hessischen Landestheaters Marburg steht zu raten, dass sie im nächsten Jahr Schauspielern des Ensembles die Teilnahme erleichtern. Dafür braucht es möglicherweise besonderer Anreize für de Extra-Arbeit ebenso wie einer intelligenten Termin-Platzierung ohen Premieren-Stress im Nacken.
Das Format "Poetry Slam" lohnt den Aufwand. Mit 190 Zuschauern war die Veranstaltung wieder nahezu ausverkauft.
Jürgen Neitzel
Text 4542 groß anzeigenwww.marburgnews.de