27.09.2010 (jnl)
Die Podiumdiskussion am Ende der Hochschultagung der Volkskundler zeigte klaren Änderungsbedarf auf. Drei Fachleute legten am Sonntag (26. September) ihre Finger in die Rückständigkeiten der gegenwärtigen deutschen Volkskundepraxis.
Unter der kompetenten und liebenswürdigen Moderation der Marburger Professorin Dr. Ina Merkel untersuchte man das Thema "Demokratisierung oder Trivialisierung der Wissenschaft? Wie zugänglich ist unsere Wissenschaft für die Öffentlichkeit und was bedeutet eine weitere Öffnung?".
Merkels Aufriss über die zwei intendierten Themenfelder nahm die Forderung nach Zukunftsorientierung des Fachs ernst. Sind die traditionellen Wege der Wissensvermittlung qua Buch, Museum und Vortrag auf absehbare Zeit noch tragfähig? Zweifel müssen erlaubt sein. Haben die Volkskundler durch eine Online-Verfügbarkeit und Popularisierung ihrer Forschungsergebnisse eine Entwertung zu befürchten?
Die drei Statements der für dies Podium eingeladenen Fachleute gaben die Initialzündung der Debatte. Als Praktiker weit auseinanderliegender Arbeitsfelder waren sie sich darin einig, dass weitaus mehr Internetpräsenz und Vernetzung nötig sein wird.
Die Frankfurter Professorin Dr. Gisela Welz gab im Blick auf aktuelle US-amerikanische Entwicklungen eine alarmierende Lageeinschätzung. Die kleinen Verlage und wissenschaftlichen Zeitschriften, auf die Fächer wie die Europäische Ethnologie angewiesen sind, gerieten in den USA in Existenznot.
Durch Knebelverträge der großen Wissenschaftsverlage wie Wiley und Elsevier, die die Universitätsbibliotheken zu teuren Paketkäufen ihrer Produkte zwängen, würden die kleinen Wissenschaftsverlage hinten runter fallen. Es gebe bereits ein Sterben der Fachreihen, auch als "Serials Crisis" bekannt.
Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Eine aus ökonomischen Gründen von Schließung bedrohte kleine Fachzeitschrift in den USA entschloss sich, auf "Open Access" umzustellen. Sie vervielfachte binnen kurzer Zeit ihre Leserschaft und erfreut sich als Fachorgan neuerlich guter Vitalität.
Die renommierte Duke University in North Carolina verpflichtete alle bei ihr tätigen Wissenschaftler ihre Forschungsaufsätze kostenlos auf dem "Duke Space Repository" online zur Verfügung zu stellen. Als Arbeitgeber gehören ihr die Nutzungsrechte der in ihr entstandenen Wissensprodukte. Über kurz oder lang werden auch deutsche Universitäten solche Argumentation und entsprechende Strukturen einführen.
Welz plädierte dafür, sich nicht den Blick auf Marktmechanismen und Verdrängungswettbewerb zu verstellen. Wissen sei im 21. Jahrhundert grenzüberschreitend und nicht mehr national zu "containern".
Der Leipziger Museumsmanagement-Professor Dr. Markus Walz sprach von einem weit vorangeschrittenen Bedeutungsverlust der Volkskundler in der Museumslandschaft. Es gebe kaum noch Persönlichkeiten aus dem Fach, die als Schrittmacher und Stilbildner die Museen-Entwicklung prägten. Zunehmend würden Leitungspositionen stattdessen mit Historikern besetzt.
Von 6000 Museen insgesamt im deutschen Raum hätten 2400 Hauptamtliche. Nur ein kleinerer Teil der Hauptamtlichen seien Wissenschaftler, die auch forschten. Wie könnte das ehemalige Leitfach Boden zurückgewinnen? Elektronische Vernetzung böte Chancen.
Christoph Köck vom hvv-Institut des Hessischen Volkshochschulverbands sprach für das Arbeitsfeld Erwachsenenbildung. Er berichtete von einer Umfrage zur Programmentwicklung mit rund 1000 Befragten. Buchstäblich niemand von ihnen antwortete, dass die Volkskunde für das volkshochschulinterne "Studium Generale" Themen hergebe. Daran sehe man, wie radikal das Fach aus dem Blickfeld der Menschen verschwunden sei.
Zu Zeiten von Ingeborg Weber-Kellermann sei das entschieden anders gewesen. Durch Fernsehproduktionen mit volkskundlichen Forschungsthemen im Hessenfernsehen habe man damals eine echte Verankerung und Popularisierung erreicht.
Köck regte an, die dgv-Beiträge als "open access"-Repositorium online zugänglich zu machen. Auch ScienceBlogs aus den Reihen der Volkskundler könnten die Bekanntheit des Fachs für die jungen Generationen eher fördern als die klassischen Publikationsmittel.
Als besonders lesenswert wurde genannt der Aufsatz von Eveline Siegel: "Feldforschung im Web 2.0". Volkskundliche Themen hätten im Übrigen aufgrund ihrer Alltagskulturnähe ein großes Potenzial als "hot" zu gelten. Nur müssten sie überhaupt erst einmal wahrgenommen werden. Das "Wie" der Präsentation und Moderation sei entscheidend. Könnten Wissenschaftsjournalisten da eine Rolle spielen?
Ina Merkel fragte unverblümt, "warum setzen wir uns nicht in Bewegung?". Die geschilderten Sachverhalte legten das doch verflixt nahe.
Welz konstatierte dazu, die Entwicklung insgesamt sei sehr im Fluß. Es gebe großen Wachsamkeits- und Forschungsbedarf. Den techno-skeptischen Wortmeldungen etwa im FAZ-Feuilleton riet sie, wenig Beachtung und Einfluss zu schenken.
Eine Frage aus dem Publikum richtete sich auf die urheberrechtlichen Probleme bei Online- und "Open Acess"-Publikation. Das Urheberrecht bleibe beim Autor und sei rechtlich gut geschützt, beruhigte man die Fragerin. Wieviel Rechte man den Nutzern einräume, sei eine Frage der gewählten Lizenz. Dabei sollte man "Creative Commons" in unterschiedlichen Ausprägungen durchaus in Betracht ziehen.
Köck meinte dazu, er hielte jede Wette, dass es gedruckte Tagungsbände in 20 Jahren nicht mehr gebe. Derzeit erschienen die Beiträge der vorangegangenen dgv-Tagung nach zwei Jahren kurz vor der nächsten. Dann sei natürlich nichts davon mehr aktuell.
Eine weitere Fragerin erkundigte sich besorgt, ob denn Online-Publikationen für "Science Citation Index" und Karriere-Punkte überhaupt zählten? Welz antwortete, dass die Relevanz für die wissenschaftliche Laufbahn durch Qualitätssicherung via "Peer Review" gesichert werde. Um manche Beiträge für eigene Sammelbände zu bekommen, müsse man das bereits heute häufig gewährleisten.
Professor Dr. Orvar Löfgren von der Universität Lund forderte nachdrücklich, eine englischsprachige Online-Ausgabe der Zeitschrift für Volkskunde in Angriff zu nehmen. Das sei notwendig, um weltweit von der fachbezogenen Wissenschaftsgemeinde wahrgenommen zu werden. Mangels deutscher Sprachkenntnisse bliebe man sonst abgekoppelt von den internationalen Forschungsdiskursen.
Eine Fragerin gab zu bedenken, dass die elaborierte Sprache vieler volkskundlicher Publikationen die Verstehbarkeit für Fachfremde behindere. Sie forderte eine einfachere Sprache, die weniger Barrieren enthielte. Welz antwortete ausweichend, dass ein gewisses Niveau von Sprache und Vokabular nicht unterschreitbar bliebe. Zuviel Trivialisierung wolle sie nicht.
Ina Merkel merkte an, dass offenbar Transferleistungen für Online-Projekte benötigt würden. Woher aber sollten die Ressourcen dafür kommen?
Professor Dr. Ruth Mohrmann von der Uni Münster stellte das zukunftsweisende Projekt
"Europäische Geschichte Online" (EGO) vor. Das Institut für Europäische Geschichte der Universität Mainz ist federführend. Die Uni Trier ist eingebunden. Die Deutsche Forschungs Gemeinschaft (DFG) finanzierte den Anschub und zwei wissenschaftliche Stellen. Dr. Mohrmann ist als Sachverständige hinzugezogen worden.
Die Moderatorin stellte die notwendige Frage an die dgv-Spitze: Was tut die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde - gegenwärtig und künftig? Prof. Dr. Reinhard Johler aus Tübingen antwortete sehr ausweichend. Man habe seit kurzem eine neue Redakteurin für die Verbandszeitschrift. Die dgv-Website werde einer Runderneuerung unterzogen. Im übrigen sei er noch genau ein Jahr im Amt. Und man solle die dgv nicht mit Aufgaben überladen.
Die Abschluss-Statements der Podiums-Fachleute waren kurz und prägnant. Köck forderte erneut ein Online-Portal der dgv, wo die Zeitschriften-Beiträge möglichst "open access" abrufbar sein sollten. Walz beklagte die Abschottung der Museumsleute in ihren Bundesländern und wünschte sich mehr Vernetzung und Online-Aktivitäten. Welz nannte die Vorschläge Löfgrens unbedingt unterstützenswert. Man sollte aus den Erfahrungen der USA lernen. Die Universitätsbibliotheken sollte man als Kooperationspartner stärker in den Blick nehmen.
Prof. Dr. Karl Braun aus Marburg sprach zum Ende der Tagung alle möglichen Danksagungen aus. Die grandiose, reibunglose Organisation der Tagung sei durch ehrenamtliches Engagement der Marburger Studierenden möglich gewesen. Besonders die wissenschaftlichen Mitarbeiter Christian Schönholz und Claus-Marco Dieterich hätten viel Verantwortung übernommen. Jetzt müsse man weitersehen, wieweit Anregungen aus der Hochschultagung umgesetzt werden könnten.
Jürgen Neitzel
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