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Aufbruch der Lesegewohnheiten


Auftakt des Krimi-Festivals mit Denis Scheck

27.09.2010 (jnl)
Den zündenden Auftakt zum Marburger Krimi-Festival 2010 gab ein - aus Fernsehen und Hörfunk bekannter - Kritiker. Mit einem ganzen Stapel neuer Bücher gastierte Denis Scheck am Sonntag (26. September) in der lutherischen Pfarrkirche.
Das passe ihm ganz gut, bemerkte er launig zum Gotteshaus als Ort der Lesung. Er sehe durchaus Parallelen zwischen Prediger und Kritiker.
Und "darf man das?" sei auch nur eine sehr deutsche Frage. Andere Nationen gingen damit viel pragmatischer um.
Jedes Jahr kämen rund 90.000 Neuerscheinungen auf den Büchermarkt, zeigte Scheck auf. Die meisten sind Sachbücher.
Nur etwa 10.000 gehören zur erzählenden Literatur im weiteren Sinne. Der Anteil der Krimis sei davon wiederum ein großes und wachsendes Segment.
Woran messe er die Qualität von Kriminalromanen, fragte sich der Literaturkritiker selbst. Zunächst müsse das Buch sprachlich als Literatur gut sein und darüber hinaus aber um einiges spannender als andere Romane.
Angesichts der Bandbreite dessen, was heute als Krimi auf dem Markt sei, habe er mittlerweile keine Passepartout-Definition mehr. Originell kam Scheck mit einem Unterscheidungsmerkmal daher, das er als grundlegend für Krimis ansieht. Das Genre beinhalte das Versprechen an die Leserschaft, dass man darin von den meisten Zumutungen der Gegenwart verschont bleibe.
Gekocht wurde im Krimi schon immer, mit Vorliebe "hard-boiled". Scheck las einen überaus amüsanten Aufsatz über die zunehmende Kulinaristik in der Kriminalliteratur.
Ins Extrem getrieben, käme dabei ein Verzicht auf "Action" und eine "knallharte Speisekarten-Prosa" heraus. Bekömmlich sei das nur in Maßen.
Einige seiner Krimi-Lieblingsautoren stellte der 45-jährige ARD-Kritiker vor. Er nannte als Klassiker zuvorderst die britische Autorin Dorothy Sayers (1893-1957). Auch die vom Publikum derzeit nicht mehr hoch geschätzte Agatha Christie (1890-1976) lobte er. In der aktuellen Neuübersetzung von Pieke Biermann kämen ihre literarischen Qualitäten besser heraus.
Für zwei österreichische Krimi-Autoren brach Scheck eine Lanze. Wolf Haas nannte er "ein Krimi-Wunder". Seine Romane seien "alle religiös grundiert - perfekt für diesen Ort". Vor allem aber perle seine Sprache wie ein "lockeres Theken-Parlando" und die Erzählungen seien überaus raffiniert.
Gleichrangig mit Haas nannte er den Autor Heinrich Steinfest. Gerüchten zufolge schreibe der gerade an einem mit Spannung zu erwartenden "Stuttgart21"-Kriminalroman.
Als besondere Empfehlung für hartgesottene Leser nannte Scheck Bret Easton Ellis mit "American Psycho". Dieser - seit einem Gerichtsentscheid nicht mehr verbotene - Roman enthalte ein paar grausame Folter-Szenen. Doch die Aufdeckung der kriminellen Energien der Börsenwelt lohne die Lektüre.
Auch David Foster Wallace mit dem im letzten Jahr auf Deutsch erschienenen Roman "Unendlicher Spaß" harre noch der Entdeckungslust. Und man sollte mal das Experiment wagen, Jonathan Littell mit dem Roman "Die Wohlgesinnten" als Krimi zu lesen.
Als "ein Sachbuch, das sich spannend wie ein Krimi liest", stellte Scheck "Von Kamen nach Corleone" von Petra Reski vor. Über diese Autorin sage die prominente Krimi-Schriftstellerin Donna Leon, ihr verdanke sie das meiste, was sie über die italienischen Mafia-Clans wisse.
Ihren aktuellen 18. Roman der Brunetti-Reihe hatte Leon ihr deswegen persönlich gewidmet. Reskis Buch handelt von der italienischen Mafia mitten in Deutschland.
"Fragen Sie den Papagei" von Richard Stark sei übrigens ein überaus lesenswertes "Hohelied auf die Professionalität" im Farmer-Familien. Der Held "Parker" ist ein vom Pech verfolgter Berufskrimineller, der immer wieder an kleinen Fehlern seiner Komplizen scheitert und deswegen nie reich wird.
Von den Krimi-Neuerscheinungen nannte Scheck Thomas Pynchon mit "Natürliche Mängel" sowie Heinrich Steinfest mit "Batmans Schönheit". Wolf Haas habe ein tolles Kinderbuch neu auf dem Büchermarkt: "Die Gans im Gegenteil".
Die übrigen Bücher auf der Liste, die von den Veranstaltern eingangs verteilt worden war, kamen nicht mehr zum Zuge. Darunter waren Hakan Nesser, John LeCarre, Thomas Willmann und Andrea Camilieri mit ihren aktuellen Krimis.
Zu Leonie Swann, die am Samstag (9. Oktober) auf dem Krimi-Festival zu Gast sein wird mit dem skurrilen Schafskrimi "Garou", empfahl Scheck: "Unbedingt hingehen!"
In der Fragerunde fragte die charmante Moderatorin Alexandra Klusmann Scheck, ob denn die schockierenden Telefonrechnungen seiner Jugend tatsächlich wahr seien. In der aktuellen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) hatte sie ein entsprechendes Interview mit dem prominenten Literaturkritiker gefunden.
"Na klar", sagte der 45-jährige Referent. Mit seiner - schon als 13-Jähriger gegründeten - literarischen Agentur habe er genug Geld verdient, um solche Rechnungen zu begleichen.
Ist die Literaturkritik in Deutschland zu kuschelig, wurde Scheck gefragt. Das sehe er tatsächlich so, antwortete er. In den Medien gebe es heute zu wenig echte Kritik, die Tacheles rede und die Spreu vom Weizen trenne.
Ähnliches gelte aber leider auch für den schlimmen Niedergang des Bäckerhandwerks und der Schuhindustrie. Die Medien der Gegenwart nähmen ihre vornehmste und wichtigste Aufgabe, Fehlentwicklungen und Mängel klar zu benennen, nicht mehr ausreichend wahr.
Er versuche, dem entgegen zu stehen. Viele Bücher seien eben auch so schlecht, dass man sie "in die Tonne kloppen" müsse. Und der Erfolg zeige: Die Menschen mögen das klare Kritiker-Wort. "Literaturpapst" möchte Scheck deswegen aber nicht genannt werden.
Mit seiner großen Begeisterungsfähigkeit hat der namhafte Literaturkritiker das Publikum in der Pfarrkirche spürbar mitgerissen. Dass nicht ganz so viele Leute gekommen waren wie im Vorjahr bei Hakan Nesser, mag am Sonntagabend und am Wetter gelegen haben.
Jürgen Neitzel
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