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Umbruch der Volkskunde


Hochschultagung mit Vorträgen hohen Niveaus

26.09.2010 (jnl)
Die Marburger Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) präsentierte eine Leistungschau. Die kulturwissenschaftlichen Vorträge am Samstag (25. September) in der Alten Aula der Philipps-Universität zeigten durchweg ein hohes fachliches und intellektuelles Niveau.
Der Marburger Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann eröffnete mit dem Thema "Marburg? - „die Stadt selbst aber ist sehr häßlich." Frust und Lust am Lokalen bei den Brüdern Grimm". Mit dem provokativen Titel erzeugte er große Spannung.
Zimmermann bot ein Kontrastprogramm zur traditionellen Heimattümelei der Gebrüder-Grimm-Rezeption. Anhand von Zitaten aus Briefen und Nachlass der Brüder gelang ihm der überzeugend geführte Nachweis, dass diese ein hoch reflexives Verhältnis zum romantischen Heimatbegriff pflegten.
Einerseits verabscheuten sie tatsächlich die engen Gassen und vielen Treppen "des inwendig so dörfischen Marburg". Dies Zitat von Jakob Grimm stammte aus dem Jahr 1814. "Nicht einmal Straßenlaternen" hatte die damalige Universitäts-Kleinstadt. Die Kulturmetropolen Dresden und Paris mit fünfstöckigen Häuserzeilen, Fortschritt und gesellschaftlichem Leben waren eher ihr Ideal.
Auch die Philipps-Universität mit ihrem schon damals mangelnden Bibliotheksetat kam bei ihnen nicht gut weg. Dabei war ihre eigentliche Heimat die geistige Welt ihrer Arbeit und Liebe zu Büchern, arbeitete Zimmermann heraus.
Enthusiastisch lobten die Gebrüder Grimm die schöne Landschaft um Marburg sowie den Blick vom Schlossberg in die Weite. Überhaupt hassten sie viele Unzulänglichkeiten des damaligen Alltags. Aus zeitlicher wie räumlicher Ferne hingegen zeigten sie im Blick auf das Hessenland öfter schwärmerische Heimatliebe.
Auch die Geburtsstadt Hanau, die Kleinstadt Steinau als Ort ihrer Kindheit sowie die kurhessissche Residenzstadt Kassel wurden ähnlich zwiespältig wie Marburg beurteilt.
Über die mit projezierten historischen Bildern und Kernzitaten veranschaulichte Beschreibung der Historie hinaus, ging der Vortrag in eine analytischen Untersuchung zum Realitätsgehalt und Wert der Heimatliebe über.
Schon die Brüder Grimm waren sich darüber im Klaren, dass ihre Heimatpoesie auf selektive kleine Erlebnisse des Geborgenseins aufbauten. Es waren Tagträume und Verklärungen im Rückblick auf "Elementarteilchen des Glücks".
Drei Gründe zur Rechtfertigung des Werts der Heimatliebe trotz ihres Charakters als Selbsttäuschung nannte Zimmermann: Vertrauen, Klugheit und Sprache. Elternliebe gebe Bodenhaftung, Lust am Lokalen erzeuge Scharfsinn und Sprache ermögliche Teilhabe an Gemeinschaft.
Der "Rückhalt des Ortes" ermögliche Standfestigkeit und Handlungsfähigkeit auch in schwierigen Zeiten. Man dürfe sich die Liebe zur Heimat nicht von schlechten Umständen verderben lassen.
Zimmermann bekam viel Beifall für seine exzellente, spannende Ausarbeitung zu klassischen Kernthemen des Faches.
Einen völlig anderen, eher gegenwarts- und zukunftsbezogenen Raumbegriff empfahl der nächste Vortrag. Dr. Helmut Groschwitz vom Regensburger Institut sprach über: "Raumkonstruktionen und der Raum der Konstruktionen".
Sein Ausgangspunkt war die Konstatierung einer neuen Konjunktur des Nachdenkens über Raumbezüge im Kontext des so genannten "spacial turn". Es gehe in der Epoche der Globalisierung längst nicht mehr um den nationalen, absoluten Raum sondern zunehmend um einen relationalen Raumbegriff.
Unter ausdrücklicher Berufung auf die Darmstädter Raumsoziologin Martina Löw verfocht Groschwitz die Ordnungs- und Orientierungsleistungen der wissenschaftlichen Räume-Reflektion. Mit den virtuellen Räumen des Internets ergäben sich neue Herausforderungen.
Den Fachkollegen empfahl der Regensburger sich der Erforschung der "Social Media" nicht zu entziehen. In der Ära des Begriffs der "Glokalität" müsse man Rekursen und Repräsentationen in den räumlichen Netzwerken nachspüren. Sonst verliere man den Anschluss an die sich rasant verändernde Mitwelt.
Die Moderatorin Ina Merkel fragte, wie man derartiges konzeptionelles Denken auf konkrete Projekte der Forschung herunterbrechen könne? Ihr sei derzeit keine einzige volkskundliche Studie zu diesem Themenbereich bekannt.
Genau auf diese Vernachlässigung eines der drei Grundkategorien des Faches - neben Geschichte und sozialer Gruppe - habe er aufmerksam machen wollen, antwortete Groschwitz. Im Zusammenhang mit den Diskursen über Migration fände man noch immer oft völlig veraltete Vorstellungen von Sesshaftigkeit.
Den dritten Vortrag hielt der Grazer Lehrbeauftragte Johann Verhovsek. Sein Thema lautete: "Die stille späte "(R)evolution". Auf Spurensuche nach dem "Umbruch" der Volkskunde in Österreich".
Die Nachkriegsgeschichte des Faches in der Alpenrepublik war bisher selten im Blickfeld. Anders als in Deutschland fanden die Umbruchzeiten zu Beginn der 1970er Jahre in Österreich fachintern kaum statt. Zu fest saßen die Lehrstuhlinhaber in Wien, Graz und Innsbruck im Sattel.
Als vierter Platzhirsch kam noch der Wiener Museumsleiter und Schriftleiter der Zeitschrift für österreichische Volkskunde, Leopold Schmidt, hinzu. Diese Chefs duldeten die Veränderungen des Zeitgeistes an ihren Instituten nicht. Die alten Kanon-Traditionen sollten schlicht weiter gelten.
Schmidt zielte auf ein möglichst "soziologiefreie Volkkunde". Er berichtete im Zentralorgan des Faches über den Aufruhr und Umbruch in Deutschland vorsorglich gar nicht. Es war damals die Rede vom "Sonderweg der österreichischen Volkskunde".
Verhofsek betonte, dass die Widerstände gegen die Umbruchzeiten keine Trägheit sondern aktive Handlungsweisen von Kollektiven gegen Veränderungen waren. Das äußerte sich in Ausgrenzen, Versuchen des Lächerlichmachens und Assimilierens.
Seit Beginn der 1980er Jahre habe durch Generationswechsel ein stilles, allmähliches Nachvollziehen der deutschen Fach-Neukonzeptionen stattgefunden. Als zwischenzeitlich einflussreichsten österreichischen Neuerer benannte Verhofsek den 1983 verstorbenen Wiener Fachkollegen Helmut Vielhauer.
Da der Grazer "lecturer" seinen Vortrag zu breit angelegt hatte, durfte er wegen Zeitüberschreitung seinen empirischen Teil nicht mehr vortragen. Er hatte qualitative Interviews mit fachlichen Zeitzeugen des damals verhinderten Umbruchs geführt und ausgewertet.
In der Diskussion des Vortrags wurde die Realisierbarkeit der Anonymisierung der erhobenen Daten stark angezweifelt. In einem so kleinen Fach könne man Aussagen fast immer auf bekannte Personen rückbeziehen.
Als letzten Vortrag vor der Mittagspause übernahm der Berliner Volkskunde-Professor Wolfgang Kaschuba das Mikrophon. Sein Thema: "Stürmische Zeiten: Fluchten und Aufbrüche in der Volkskunde" widmete sich stark dem im Tagungstitel Angekündigten. Das Konzept war teils fachgeschichtlich, teils analytisch angelegt.
Die ersten hundert Jahre der Volkskunde 1860-1960 standen laut Kaschuba ganz im Kontext einer konservativ-romantischen Bürgerbewegung. In den letzten fünfzig Jahre seit 1960 fand eine tendenziell linksbürgerliche Wendung des Fachs statt. Es ging "weg vom Kult der Gemeinschaft hin zur Kultur-Wissenschaft der Gesellschaft", sagte Kaschuba.
Es gebe eine spezifische Konstante durch die gesamten 150 Jahre der Fachgeschichte, das sei der Gestus "Wir sind für das Volk". Das habe romantische Ursprünge und kennzeichnete ursprünglich eine interventionistische Haltung gegen die Industrialisierung und den Geist der Aufklärung.
Doch auch heute noch sei der Habitus der Fachvertreter überwiegend "anwendungsorientiert", beobachtete Kaschuba. Der Kritiker Wolfgang Brückner habe dafür das Wort geprägt vom "Praxis-Fetischismus". Die Volkskundler verständen sich zwar ausdrücklich nicht als Erzieher aber durchaus als Sympathisanten der Unterschichten.
Beim Interventionismus unterschied Kaschuba zwischen dem althergebrachten "im Feld" und dem heutigeren "für das Feld". Die ältere Form fände ihren Ausdruck im traditionellen Sammeln und Beschreiben. Die aktuellere Ausprägung sehe sich selbst unter dem Motto " Wir sind die Guten".
Unter der Formel "Kultur und Lebenswelt" sei der Habitus der Fachvertreter verjüngt, teilweise jugendkulturell umorientiert worden. Der Aufbruch weg von einem biologistischen zu einem historischen Menschenbild entspreche einem 68er-Narrativ.
In den frühen 70er-Jahren seien sieben oder acht neue Einführungen ins Fach veröffentlicht worden. Mit dem neuen Anspruch des Teamgeists habe es vermehrt kollektive Herausgeberschaften gegeben.
Zugleich nahm das Fach auch stellenmäßig enorm zu. Statt zuvor neun gibt es derzeit laut Kaschuba 28 Volkskunde-Professuren.
Ab 1990 mit der Wiedervereinigung habe es erneut einen Umbruch mit der Notwendigkeit neuer Standortbestimmungen gegeben. In einem veränderten Verhältnis zum politischen Feld sei die Frage der Nutzbarkeit volkskundlicher Forschung im Raum gestanden. Es gab seither Debatten über den Leitkultur-Begriff und über die Migration und Integration.
Bei der eigenen fachlichen Akteurs-Orientierung dominiere der "Respekt für das, was wir nicht mehr Volk nennen wollen", beobachtete der Berliner. Das Credo sei, "wir forschen nicht am grünen Tisch und nicht für den Elfenbeinturm". Aber trage dieses Ethos überhaupt noch unter den Studien-Bedingungen von Bachelor und Master?
Kaschuba empfahl als Remedur: "mehr Selbstreflektion im Eigenen und nicht immer nur Beobachtung der Anderen". Abschließend stellte er die Frage, ob die Vertreter des Faches nicht mittlerweile "ziemlich mittelschichtig geworden" seien?
Die starken Thesen des Berliner Professors sorgten für einige engagierte Wortmeldungen. Die Moderatorin verneinte für sich spontan die angesprochene Mittelschichts-Orientierung. Ihr Marburger Professorenkollege Karl Braun kritisierte das Begriffskonzept des Interventionismus. Das sähe er für sich so gar nicht.
Ina Merkel schickte die kluge Frage in den Disput, warum denn keinerlei Volkskundler mediale Präsenz in der Debatte um die Sarrazin-Thesen gezeigt habe? Das sei doch sehr auffällig.
Bevor sich die rund hundert Tagungsteilnehmer in die Mittagspause zerstreuten, ergriff eine Initiatorin das Wort für eine im besten Sinne des Wortes interventionistische Solidar-Anfrage des von Schließung bedrohten Altonaer Museums.
Um lumpige dreieinhalb Millionen Jahresetat einzusparen, seien aktuell 600.000 Exponate der Hafen- und Fischerei-Geschichte gefährdet. Sie bat nicht nur um individuelle Unterschriften gegen die Schließung sondern vor allem um fachliche Statements von Instituten mit Argumenten gegen die Sparwut der Hamburger schwarz-grünen Koalition.
Bei den übrigen drei Vorträgen des Tages war der Berichterstatter nicht mehr dabei, da andere Arbeitstermine ihn anderswo forderten.
Ein Fazit für diesen Tag steht an. Der Vortragsteil der dgv-Hochschultagung war ausgezeichnet organisiert und zeigte hohe fachwissenschaftliche Standards. Die Vorträge enthielten zahlreiche Anregungen, über die sich weiteres Nachdenken lohnt.
Das Tagungsmotto "Umbruchszeiten" wurde allerdings nur teilweise erfüllt. Wie in der Volkskunde zu erwarten war, überwogen die geschichtlichen Bezugnahmen. In die Herausforderungen der Gegenwart oder Zukunft stießen die Vorträge nur punktuell vor.
Jürgen Neitzel
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