10.09.2010 (fjh)
"Die Leute hier sind so alt", seufzt Schorsch, "im Kopf!" Der Maschinist träumt von einer "neuen Welt", wo Maschinen den Menschen die Knochenarbeit wegnehmen und alle Menschen gleich sind.
"In die neue Welt" heißt auch die Theater-Trilogie von Willi Schmidt über das Leben auf einem mittelhessischen Dorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Den abschließenden dritten Teil "Das Sängerfest" brachte der Marburger Autor am Donnerstag (9. September) in einer eigenen Inszenierung auf die Bühne der
Waggonhalle.
Gespannt erwarteten die Zuschauer im vollbesetzten Theatersaal den Beginn der Waggonhallen-Produktion 13. Doch vor dem Anfang betrat Waggonhallen-Geschäftsführer Matze Schmidt die Bühne und begrüßte die Premierengäste.
Nur drei Tage vor der Uraufführung hatte der Gesangsverein Wittelsberg seine Zusage zur Mitwirkung an der Produktion zurückgezogen. Auslöser waren Proteste einiger Mitglieder des Chors gegen die Verarbeitung des Themas "Sexueller Missbrauch von Abhängigen" gewesen.
Der Waggonhallen-Geschäftsführer kündigte eine Informationsveranstaltung zu diesem Thema mit Experten und Vertretern der Bauernschaft an. Zudem berichtete er, dass sich nach der Absage der Sänger aus dem Ebsdorfergrund spontan ein Chor gebildet habe, um die Aufführung sicherzustellen.
Die Sängerinnen und Sänger stimmten das Publikum mit dem Lied "Am Brunnen vor dem Tore" ein. Danach begann die Handlung in einer Dorfwirtschaft.
Vor den ersten Reihen standen Kneipentische mit altmodischen Tischdecken. An der Wand hingen Spruchbänder mit Sinnsprüchen aus der Sangesszene.
Die Wirtin hat Besuch von ihrer Verwandten Leni aus Großseelheim. Die "Gode" ermahnt die junge Frau ständig, sich nicht auf die Männer einzulassen. Ihr Vater werde ihr schon den richtigen Ehepartner aussuchen.
Doch Leni will nicht Bäuerin werden. Außerdem möchte sie sich ihren Ehemann selbst aussuchen.
Ihre Patin wiegelt diese Wünsche allerdings ab. Schon immer sei es so gewesen; und daran könne auch Leni nichts ändern.
Die Kellnerin Johanna sieht das ganz anders. Aber sie arbeitet außerdem ja noch im "Wirtshaus an der Lahn" in Marburg. Da sind die Sitten schon weitaus weniger streng als auf den umliegenden Dörfern.
Leni trifft ihre einstige Spielfreundin Hilde. Gemeinsam gehen sie hinaus aus dem Dorf, wie sie es auch als Kinder schon oft gemacht haben.
Hilde ist Jüdin. Im Dorf wird sie deswegen oft schräg angesehen, obwohl die Wirtin ihrer Familie bescheinigt, dass sie sich nie habe etwas zuschulden kommen lassen.
Schief angesehen wird auch der Knecht Wilhelm. Er hat auch einen schiefen Kopf. Darin heckt er manchen Schabernack aus oder zitiert Gedichte.
Die Magd Dotje hat sich in ihn verliebt. Auf dem Heuboden träumt sie von ihm.
Aber nicht er, sondern der Bauer schwängert sie. Er bedroht sie, bis sie sich ihm widerwillig hingibt.
Als sie schwanger wird, ertränkt sich die junge Frau. Für die meisten Dorfbewohner begeht sie damit eine Sünde.
Dennoch möchte der Dorfpfarrer sie nicht außerhalb der geweihten Erde begraben, wie es seit Jahrhunderten Brauch ist. Damit stößt jedoch er auf Kritik bei vielen Dörflern. Lediglich seine Haushälterin Martha stimmt ihm zu.
"Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Der Pfarrer fragt sich, wie oft Menschen dieses Bibelzitat schon ausgesprochen haben, seit Jesus Christus es vor 2.000 Jahren prägte.
Der Krieg und der aufziehende Faschismus sind für den Pastor Gründe, an Gott zu verzweifeln. Die Nächstenliebe verlangt es von ihm, Dotje ein anständiges Begräbnis auf dem Friedhof zu gewähren.
Mit beeindruckender Feinfühligkeit hat Willi Schmidt diese Geschichte formuliert und inszeniert. In den Rollen als Wilhelm, Bauer und Priester war er selbst auch der eindringlichste Darsteller.
Nur wenig zurückstehen mussten dahinter Hilde und Leni. Aber auch Dotje und Johanna spielten ihre Rollen durchaus gut. Auch Schorsch konnte durchaus überzeugen.
Lediglich die Wirtin wirkte ein wenig blass. Zwar sah ihr Kostüm sehr gut aus, doch wirkten ihre Sermone oft heruntergeleiert und ausdruckslos.
Den beeindruckenden Tiefgang der Geschichte hatte der Autor mit gelegentlichen Gags ein wenig aufgeheitert. So schlägt Schorsch der Leni vor, ihr seinen "Dreschflegel" zu zeigen. Schließlich ist er sehr stolz auf die Maschine, mit der er sein Brot verdient.
Immer intensiver wurden Text und Darstellung. Gegen Ende spricht Wilhelm in Reimen. Dotjes Schlussmonolog gewinnt geradezu poetische Ausdruckskraft.
Nach dieser grandiosen Uraufführung trat der sichtlich bewegte Autor auf die Bühne. Er dankte dem - von Marina Wagner einstudierten - "Projektchor", der seine Sache einigermaßen gut gemacht hatte. Vor allem aber dankte er dem Waggonhallen-Team für den Rückhalt bei der Auseinandersetzung und seinen "wunderbaren Schauspieler-Kollegen".
Der größte Dank freilich gebührt ihm selbst. Schmidt ist es auf eindringliche Weise gelungen, ein heißes Eisen sensibel und erschütternd anzusprechen.
Ihre Begeisterung darüber quittierten die Premierengäste mit sehr lang anhaltendem Applaus, zustimmenden Pfiffen und Bravo-Rufen. Wünschenswert wäre, wenn dieses Juwel tiefgründiger Theaterkunst noch mehr Marburgerinnen und Marburgern - vor allem aber der Bevölkerung des Umlands - durch weitere Aufführungen zugänglich gemacht würde.
Franz-Josef Hanke
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