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Metamorphosen


Nordviertel als Billigheim oder Klein-Monaco

09.09.2010 (fjh)
Gut 100 Besucher fasst das Vereinsheim der Afföllergemeinde. Dennoch fanden am Mittwoch (8. September) nicht alle Interessierten einen Sitzplatz.
Auf der Tagesordnung standen bei der Bürgerversammlung gleich drei Themen. Neben der Umgestaltung des Hauptbahnhofs und seines Vorplatzes sowie den Aktivitäten im Sanierungsgebiet Nordstadt war auch eine weitere Debatte über das Campus-Projekt angekündigt.
Zu Beginn stellte Stadtverordnetenvorsteher Heinrich Löwer den geplanten Ablauf des Abends vor. Demnach sollten Vertreter des Bauamts der Stadt Marburg mit Vorträgen von etwa 15 bis 25 Minuten in jedes der drei Themen einführen. Zwischen den einzelnen Punkten sollten die Anwesenden Gelegenheit zu Fragen erhalten, bevor am Ende eine ausführliche Diskussion angesetzt war.
Gegen 22 Uhr wollte Löwer die Veranstaltung dann abschließen. Letztlich konnte er diesen Zeitplan aber nur einhalten, indem das dritte Thema auf einen späteren Termin vertagt wurde.
Die Planungen zum Hauptbahnhof stellte Baudirektor Jürgen Rausch vor. Für die drei verschiedenen Bereiche sind auch unterschiedliche Bauträger verantwortlich.
Oberbürgermeister Egon Vaupel gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Deutsche Bahn AG (DBAG) diesmal ihre Zusagen einhalten und endlich mit dem begindertengerechten Umbau der Verkehrsstation beginnen werde. Kein anderes Bauvorhaben in der Stadt habe ihm in den letzten Jahren so viel Nerven gekostet wie dieses – immer wieder verschobene – Projekt. Nun aber habe die Bahn einen Termin zum offiziellen Baubeginn angekündigt.
Den Einbau von Aufzügen zur barrierefreien Erschließung des Zugangs vom Bahnhofsgebäude zu den Gleisen und die Erhöhung der Bahnsteige wolle das Eisenbahn-Bundesamt nach Angaben des Oberbürgermeisters in Kürze genehmigen. Die Erschließung durch Lifts vom Ortenberg aus habe die Stadt Marburg und der Arbeitskreis des Behindertenbeirats für Barrierefreies Bauen abgelehnt, weil Rollstuhlfahrende dadurch aus dem Empfangsgebäude herausgehalten würden.
Das Gebäude selbst teilt sich auf zwei Besitzer auf. Während die Bahn das Erdgeschoss noch umbauen möchte, hat die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GeWoBau) bereits mit der Renovierung der oberen Etagen begonnen. Zur besseren Nutzung des Dachgeschosses soll das neobarocke Gebäude dann auch Dachgauben erhalten, die nach Ansicht der Denkmalschützer gut zum Baustil des historischen Bauwerks passen.
Den Vorplatz möchte die Stadt künftig vom Individualverkehr befreien. Dadurch soll dort eine höhere Aufenthaltsqualität entstehen. Ausdrücklich schloss Vaupel auch Obdachlose in die Nutzung des Platzes mit ein.
Linienbusse werden nach diesen Plänen im Uhrzeigersinn künftig um eine Mittelinsel herumgeführt. Dadurch wird ein Umsteigen Tür an Tür ermöglicht.
Blinde sollen auf Knopfdruck eine akustische Ansage erhalten, welche Linie die Haltestelle als nächste anfahren wird. Für Rollstühle sind Absenkungen der Bordsteinkanten vorgesehen.
Den Durchgangsverkehr möchte die Stadt durch die Ernst-Giller-Straße und die Mauerstraße um den Bahnhofsvorplatz herumführen. Das Parkhaus für Bahnreisende wird dann ausschließlich vom – ebenfalls umgestalteten - Krummbogen her angeschlossen.
Im Publikum wurden Probleme für Radfahrende bemängelt, die die Bahnstation mit ihrem Gefährt per Zug erreichen oder verlassen wollen. Deftige Kritik wurde auch am Lärm der Stadtautobahn B3A laut.
Vaupel sprach sich für Lärmminderung durch eine deutliche Geschwindigkeitsbeschränkung aus. Doch das sei leider wegen des Vetos des Regierungspräsidiums unmöglich. Eine Anbringung von Lärmschutzwänden auf der Autobahnbrücke würde den Blick auf das Stadtbild völlig versperren.
Das Sanierungsgebiet Nordstadt war Thema des Vortrags von Claudia Schmedes. Sie skizzierte die verschiedenen städtischen und privaten Baumaßnahmen.
Das Hotel "Marburger Hof" an der Elisabethstraße und das Altenheim "Sankt Elisabeth" an der Lahnstraße nannte Bürgermeister Dr. Franz Kahle als Beispiele wichtiger privater Investitionen. Doch das Interesse der Bürgerschaft galt vor allem den Aktivitäten der Deutschen Vermögensberatung (DVAG) im Bereich nördlich der Bahnhofstraße.
Mehrere Fragesteller äußerten die Befürchtung, durch die Großprojekte des Marburger Ehrenbürgers Prof. Dr. Reinfried Pohl und seines Unternehmens könne es zu einer Gentrifizierung der Nordstadt kommen. Schon jetzt weiche das niedrigpreisige Segment von Geschäften und Warenhäusern eher teueren Delikatessläden.
Irgendwann könne die derzeitige Bewohnerschaft die steigenden Mieten nicht mehr bezahlen, befürchteten Diskutanten. Das Nordviertel entwickele sich allmählich zum Nobelquartier, das nach und nach in den Besitz der Familie Pohl übergehe.
Die 50.000 jährlichen Besucher des Tagungszentrums der DVAG seien überwiegend keine wohlhabenden Leute, erwiderte Kahle. Ein "Klein-Monaco" werde die Nordstadt wohl kaum werden.
Der schleichende Ankauf fast des gesamten Bereichs zwischen Bahnhofstraße und Lahn habe diesen Block zu "Pohlheim" oder "Pohlhausen" gemacht, lautete eine Kritik. Der Milliardär Pohl könne hier ungehindert schalten und walten. Auch der Abriss des denkmalgeschützten Hauses Rosenstraße 9 zugunsten seines DVAG-Komplexes wurde als Beispiel für diese Befürchtung angeführt. Die starken Emotionen des Publikums wie auch die unerwartet große Zahl der Teilnehmenden wertete Löwer abschließend als Beleg des großen Interesses an der Bürgerversammlung. Vaupel versprach, das aus Zeitmangel verschobene Thema "Campus Firmanei" zeitnah nachzuholen. Außerdem kündigte er eine ähnliche Veranstaltung für Dienstag (28. September) zum neuen Nutzungskonzept des Waggonhallen-Geländes an, die im dortigen Kulturzentrum stattfinden soll.
Von Seiten einer Bürgeriniative wurde nach offiziellem Ende der Veranstaltung zu einem "Offenen Nordstadttreffen" am Montag (13. September) um 19 Uhr im DGB-Haus eingeladen.
Franz-Josef Hanke
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