26.08.2010 (jnl)
Trotz guter lokaler Wirtschaftsdaten steige seit Jahren die verdeckte Armut in der
Stadt Marburg und im
Landkreis Marburg-Biedenkopf. Das müsse man ändern, forderten Kommunalpolitiker der
Linkspartei am Donnerstag (26. August).
Über "Große Anfragen" hatten die Linken-Fraktionen im Kreistag und in der Stadtverordnetenversammlung (StVV) Marburg präzise Zahlen zur Armutslage in der Region zu ermitteln versucht. Die Resultate und ihre Schlussfolgerungen daraus waren Gegenstand einer Pressekonferenz in der Geschäftsstelle der Linken.
Der Volkswirt und Linken-Stadtverordnete Nico Biver hielt eingangs ein - mittels Beamer mit zahlreichen Säulendiagrammen und Grafiken visualisiertes - Referat. Kreisausschuss wie Magistrat hätten seit Jahren versäumt, aussagekräftige Armutsberichte vorzulegen, beklagte er. Der "Sozialstrukturatlas" der Nachbarstadt Gießen sei in dieser Hinsicht ein leuchtendes Vorbild.
Die Marburger Linkspartei kommt aus den ihr vorliegenden Sozialdaten zu dem Schluss, dass die Armut in Stadt und Landkreis seit Jahren wächst, statt zurückzugehen.
Damit in Zukunft eine wahrheitsgemäße Darstellung der Lage erfolgen könne, hat die Fraktion Marburger Linke in der StVV die Einstellung eines Sozialplaners beantragt.
Die Haushaltsmittel dafür wurden im Juni in einer Mehrheitsentscheidung gegen die rot-grüne Koalition bewilligt. Eine solche Stelle gab es in der Universitätsstadt bis Ende 2004. Mit der Umstellung auf Hartz IV wurde sie jedoch abgeschafft.
Sofern sie der Nachprüfung standhalten, sind Bivers Aussagen ernüchternd und bedrückend.
Im Jahr 2009 seien im Landkreis mehr als doppelt so viele Menschen auf staatliche Grundsicherungsleistungen angewiesen gewesen als 2000. Die Zahl stieg von 8.300 auf 18.400 Personen. In der Stadt Marburg stieg sie etwas langsamer von 4.000 auf 7.100 Personen.
Die regelmäßig sehr positiv ausfallenden statistischen Jahresberichte des Kreisjobcenters Marburg-Biedenkopf (KJC) seien vor allem geschönte Statistiken, kritisierte der Kommunalpolitiker. Die dort vorgelegten Statistiken seien wenig aussagefähig, ja sogar irreführend, da ein gutes Drittel der tatsächlich Betroffenen mit unsachgemäßen Begründungen wie etwa "Alter über 58 Jahren" herausgerechnet würden.
Die absolute Zahl der Menschen in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften sei von 14.068 Personen Ende 2005 auf 15.002 im Jahr 2009 gestiegen. Das sei der Fall trotz Zuwachs der Arbeitsstellen um 3000 und Rückgang der Erwerbslosenzahl um 3.900.
Vergleiche man die Entwicklung der Hartz-IV-Zahlen von Ende 2005 bis Juni 2010, ergebe sich ein Anstieg der insgesamt betroffenen Personen in Bedarfsgemeinschaften von 8,8 Prozent. Nur vier Kreise in Hessen lägen schlechter.
Im November 2009 hätten 2.927 Personen trotz vorhandener Arbeitsstelle ihren Niedriglohn auf Hartz-IV-Niveau austocken lassen. Ohne Kinderzuschlag und die Wohngeld-Verbesserung läge die Zahl noch höher.
Laut offiziellen Zahlen waren 2009 wie 2000 etwa 2.300 Personen in der Stadt Marburg arbeitslos. Ohne die legalisierten Manipulationen der Statistik hätte die Zahl 2009 etwa 3000 Personen umfasst.
Marburg ist gegenwärtig hessenweit Spitzenreiter beim Job-Zuwachs. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg von 34.500 im Jahr 2000 auf 37.900 neun Jahre darauf. Aber nur 20.600 Bewohner Marburgs hatten in ihrer Stadt Erwerbsarbeit gegenüber 20.700 im Jahr 2000. Der Job-Boom gehe an den Einwohnern der Stadt vorbei, moniert die Linkspartei. Profitieren davon könnten vor allem Job-Pendler von auswärts.
Mit 5.747 Personen, die Ende 2009 Sozialgeld oder Hartz IV erhalten, liege die Stadt Marburg auf dem gleichen Niveau wie 2005, als rund 5.700 Personen davon betroffen waren.
Um eine "Armutsquote" zu berechnen, fehlten zu viele Daten, beklagte der Referent. Anhand der Grundsicherungs-Leistungsbezieher ließe sich eine annähernde "Mindestsicherungsquote" errechnen, die den Großteil der Armut abbilde. Diese "Sozialhilfequote" lag 2002 bei 4,2 Prozent in Marburg und bei 3,9 Prozent in Hessen. Im Jahr 2008 waren es 9,0 Prozent in Marburg und 8,5 hessenweit.
Aus den Nachfragen der versammelten Pressevertreter ergaben sich noch einige Ergänzungen und Richtigstellungen. Der genaue Anteil der betroffenen Alleinerziehenden war laut Aussage der Linken-Kommunalpolitiker nicht genauer bezifferbar. Der Prozentsatz sei aber nach wie vor recht hoch.
Das ersatzlose Wegfallen der Sozialplanerstelle in der Stadt Marburg ab 2005 löste einige Fragen aus. Der Stelleninhaber Josef Bardelmann war zum Kreisjobcenter gewechselt. Im Jahr 2003 war letztmals ein Sozialdatenbericht für Marburg vorgelegt worden. Die Kreisabgeordnete Inge Sturm schlug vor, die Begründung für dieses Wegfallenlassen vom Magistrat einzufordern.
Als verblüffend wurde die Tatsache bezeichnet, dass in dem in den vergangenen Jahren schwarz-gelb regierten Gießen eine im Vergleich zu Marburg soviel bessere Sozialdatenerhebung durchgeführt wurde. Als Hauptgrund wurde die höhere Personalausstattung angegeben.
Die Stadt Marburg beschäftigt ein Drittel weniger Personen als das größenmäßig vergleichbare Gießen. Ein weiterer Grund dort war eine intensive Zusammenarbeit mit Forschern der Universität Gießen.
Was für Schlussfolgerungen schlagen die Marburger Linken-Kommunalpolitiker vor? Der Stadtverordnete Georg Fülberth nannte zwei Vorschläge: 1. die rasche Neubesetzung einer Sozialplanerstelle und 2. eine breite öffentliche Aussprache über die Diskrepanz zwischen den guten Wirtschafts- und Beschäftigungsdaten und den gar nicht so guten Sozialdaten Marburgs herbeizuführen.
Auf der am Freitag (27. August) stattfindenden Stadtparlamentssitzung steht das Thema auf der Tagesordnung. Es wurde allerdings weit hinten platziert, sodass es erst spät am Abend ansteht oder sogar auf die nächste Sitzung verschoben wird.
Zum Januar 2011 steht im Optionskreis Marburg-Biedenkopf auch die Einführung der sogenannten "Bürgerarbeit" an. Auf Nachfrage eines Journalisten berichtete der Kreisbeigeordnete Hajo Zeller über die Standpunkte der Linkspartei zu diesen Vorhaben. Am Freitag (17. September) stehe auf der Kreistagssitzung die Beantwortung der Fragen der Linkenfraktion zu erwarten.
Erfragt wird in dem Antrag eine detaillierte Aufstellung der von den Kreisgemeinden beantragten
Jürgen Neitzel
Text 4377 groß anzeigenwww.marburgnews.de