19.08.2010 (jnl)
Neue Spielstätten ermöglichen andersartige Erlebnisqualitäten. Das neue Stück von Rolf Michenfelder feierte am Mittwoch (18. August) im Welcome-Hotel eine - viele Sinne ansprechende - Premiere. "So viele Küsse, so viele Seufzer" beleuchtete das Liebesleben und -Leiden von Menschen der Jetzt-Zeit.
Die Spannung im Publikum war groß, was der ungewöhnliche Spielort an Überraschungen bereithalten würde. Das verrieten die Gesichter der Wartenden, bevor die 26-köpfige Gruppe der Premierengäste die Treppen hinaufstieg.
Durchs Fenster erblickte man eine hochgewachsene Gestalt in Eisbären-Verkleidung, die umherwanderte und traurig zur Gruppe herüber starrte. Aus der Ferne ertönte ein sehr ansprechender weiblicher Gesang.
Als die Stimme näher kam, sah man eine junge, schöne asiatische Frau im Abendkleid, die italienische Operntexte intonierte. Irritierenderweise saß sie in einem Elektro-Rollstuhl, fuhr herbei und alsbald wieder fort.
Im Eingang machte sich ein Senioren-Paar bemerkbar mit mutwilligen Dialogen im Loriot-Stil. Die Dame legte Solo-Tanzeinlagen vor.
Erst dann erschien die - in der Einladung angekündigte - geheimnisvolle "Gretel", die den Theaterbesuchern als Führerin durch das Geschehen dienen sollte. Sie war in Begleitung eines mittelalten Mannes mit einer riesengroßen Sporttasche, den sie als ihren stummen Bruder und Gehilfen vorstellte.
Gemäß der roten oder blauen Farbe der Eintrittskarten teilte sich die Gruppe in zwei Hälften. Dann ging es auf Entdeckungsreise in die Tiefen des Hotelkomplexes.
Wie in Grimms Märchen legte Bruder "Hänsel" an jeder Wegbiegung eine Spur hinter sich. In Zimmer 224 trafen die 13 "blauen" Besucher auf die Musik der "Doors".
Am Boden rangen miteinander zwei Anzugträger in Clownsmasken. Nach und nach erfuhr man aus ihren Unterhaltungen die Liebes-Geschichte hinter ihrem Kampf.
Es handelte sich um den Ehemann und den Liebhaber einer - erst kürzlich einem Autounfall zum Opfer gefallenen - Frau. Beide äußerten sich untröstlich über den erlittenen Verlust.
Im Laufe ihres Streits gelangten sie schließlich zu einer Übereinkunft, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Ein gemeinsamer Paartanz gab ihrer Problemlösung Ausdruck.
Auf der nächsten Station der Führung geriet die Gruppe in ein Hotelzimmer, wo eine DVD-Filmvorführung ein weiteres Verlust-Drama erzählte. Der Film-Antiheld war diesmal ein Polizist, dessen heimlich geliebte Kollegin von einem Querschläger getötet worden war. Er erregte sich wortreich über das erlebte Trauma, das ihn die berufliche Einsatzeignung gekostet hatte.
Weitaus interessanter als dieser Hiob-Selbstdarsteller erschien das - liebevoll mit den Spuren seines Wahns ausgestaltete - Zimmer. Am Boden lag eine große Menge unterschiedlicher Bücher, die alle das Wort "Witze" im Titel trugen. Die Wand und das Bett waren übersät mit Zetteln voller handschriftlicher Notizen. Doch das Ganze war ganz und gar kein Witz.
Sofort wenn eine der Raum-Geschichten von der Liebe oder ihrem Schiefgehen voll entfaltet war, ging es weiter. Auf dem Weg begegnete man erneut der singenden Rolli-Fahrerin sowie dem kauzigen Loriot-Pärchen.
Zurück am Ausgangspunkt der Exkursion, entdeckte man, dass der wandelnde Eisbär ein eigenes flaches Zelt besaß. Er stand wohl für die wegen der Klima-Verschiebung notleidende Natur ebenso wie für die wachsende Armut in Deutschland.
Die Rollstuhl-Schöne hatte ihren großen Auftritt, als sie ein wunderbar poetisches Gedicht von Hilde Domin vortrug. Es war auf Deutsch und handelte vom Überwinden der Vergänglichkeit durch das Bauen eines eigenen Hauses für seine Liebe.
Nun übernahm Gretel die Führung, deren Gesicht so eindrucksvoll das Plakat zum Stück prägte. Das Zimmer, in das sie führte, war bewohnt von einem elfjährigen Mädchen.
Inmitten einer großen Zahl beleuchteter Hochhäuser aus Pappe erzählte das Kind, was seine alleinerziehende Mutter ihm über die Welt der Gegenwart beigebracht hatte. Was muss man fürchten und meiden? Was darf man sich wünschen?
Wenn der Worte zu viele wurden, verfiel die Kleine in einen japanisch klingenden Gesang. Sie hinterließ ihre Zuschauer ein wenig ratlos.
Weitaus einnehmender war das letzte der betretenen Zimmer. Es gehörte einer Frau Ende 30, die sich mehrfach laut wünschte, sie möge an diesem Abend besonders "schön und bedürftig" wirken. Das gelang ihr tatsächlich.
Ihre Geschichte war die einer Trennung, weil sie den Mann, den sie zuvor geliebt hatte, nach einem bestimmten Erlebnis als "erbärmlichen Schwächling" verachtet und verstoßen hatte.
Er war daran zugrunde gegangen - wie vom Blitz getroffen. Auch sie selber hatte eine Traumatisierung erlitten.
Im Dialog mit der Führerin Gretel, die ihre erklärte Freundin war, zeigten sich die Symptome ihrer Verrücktheit. Dennoch trat sie in Erscheinung als eine verletzliche, schöne Frau im rosa Tüll eines Ballettkleids. Ihre Schilderung erläuterte die Herkunft des Titels "So viele Küsse, so viele Seufzer".
Vielleicht muss man tatsächlich zunächst verlieren, um dann wieder zu gewinnen. Die Darstellerin äußerte, man müsse nicht die Verhältnisse zum Tanzen bringen, sie aber erst einmal vom Starren fort verflüssigen.
Mit den Zuschauern trat diese Gestalt am meisten in Blickkontakte und kleine Interaktionen. Dieser Raum und seine Bewohnerin waren eindeutig der Höhepunkt des ganzen Stückes.
Ein paar Erzählungen Gretels auf den Fluren deuteten noch weitere mögliche Geschichten an. Aber weder die von dem kontinuierlichen Weinen noch die von den Porno-Konsumenten, die hinter einigen der belauschten, ungeöffneten Türen spielten, verlangten erzählt zu werden.
Nach einem von opulent sinnlichen Bildern und Tönen geprägten - beinah zweistündigem - Michenfelder-Stück strebten die Zuschauer sichtlich froh und zufrieden dem Ausgang zu. Der Applaus für die zehn Darsteller und die weiteren Mitwirkenden war eine herzhafte, stehende Ovation für die gezeigte Leistung.
Jürgen Neitzel
Text 4349 groß anzeigenwww.marburgnews.de