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Patenter Stau-Papst


Schreckenberg brachte Studium Generale in Fluss

10.04.2008 (jnl)
Junge Professoren sind selten. Aber häufig beeindrucken sie durch ihren persönlichen Stil. Ein Musterbeispiel dafür ist Prof. Dr. Michael Schreckenberg.
Am Mittwoch (9. April) hielt er im Auditorium Maximum (AudiMax) der Philipps-Universität den Eröffnungsvortrag zum "Studium Generale" des Sommersemesters. Sein Thema war "Unser Leben im Stau - Neue Erkenntnisse der Verkehrsphysik".
Dabei schaffte Schreckenberg es, das Publikum immer wieder zum Lachen und zum Staunen zu bewegen.
Wenn - wie kürzlich - das Bundesland Bremen ein Tempo-Limit von 120 Stunden-Kilometern auf seinen Autobahnen einführt, dann reden darüber alle. Vor allem gibt es kaum Gleichgültige, nur Gegner oder Befürworter. Das Verkehrsgeschehen ist ein unterschätztes, hoch populäres Thema des Alltags. Höchste Zeit war es also, dass die Wissenschaft sich dessen annahm, meinte Schreckenberg.
Der Inhaber der bundesweit einzigen Professur für die Physik von Transport und Verkehr lehrt an der Universität Duisburg-Essen.
Im Ballungsraum Ruhrgebiet ließen sich Verkehrsprobleme besonders gut studieren und lösen, kommentierte der Duisburger diese Standort-Wahl. Die andernorts für die mittlere Zukunft prognostizierten Verkehrs-Zunahmen seien hier schon jetzt gegeben.
Nordrhein-Westfalen (NRW) habe seit den 90er Jahren die größte Verkehrsdaten-Sammlung der Welt angelegt. Anhand der Mess-Parameter Dichte, Fluss und Geschwindigkeit könne man über automatisierte Verfahren zu jedem Zeitpunkt präzise Aussagen machen.
Erstaunlich war, wie Schreckenberg zeigen konnte, dass die Kurve des Verkehrsflusses die meiste Zeit trotz Berufsverkehrs-Spitzen mit geringen Schwankungen stabil verlief. Nur bei manifestem stockenden Verkehr und Stau lief die Selbstregulation der Verkehrsteilnehmer aus dem Ruder.
Experimentell war in Japan das spontane Entstehen von Staus analysiert worden. 30 Autofahrer fuhren dort gemäß der Versuchsanordnung stetig in einem großen Kreis. Das dabei entstandene Video ließ sich akkurat auswerten.
Tatsächlich traten zahlreiche spontane Stockungen und Staus dabei auf. Sämtliche Fälle ergaben sich aus zu geringem Abstand. Das daraus folgende Abbremsen führte zu Kettenreaktionen.
"Auf unseren Autobahnen sind zu geringe Sicherheitsabstände zwischen den Fahrzeugen geradezu notorisch", kommentierte Schreckenberg. Wer den gesetzlich vorgeschriebenen Abstand einhielte, der verlocke beständig Andere, in diese Lücken einzuscheren. Mit einigem Humor vermittelte der Vortragende die Einsicht, dass die Deutschen auf den Autobahnen ziemliche "Racker" sind.
Mit einer vergleichenden Abbildung der aktivierten Gehirn-Areale von Fahrer und Beifahrer machte Schreckenberg überdies klar, dass das Großhirn beim Autofahren keine Rolle spielt. Für Nach- oder Vorausdenken sind die notwendigen Reaktionszeiten im Verkehr schlicht zu knapp bemessen.
Katastrophal für die Aufmerksamkeit hinter dem Steuer wirke sich laut Schreckenberg jede Form von Telefonieren aus. Selbst in der legalen Form mit Freisprech-Anlage ergebe sich eine ähnliche Einschränkung der Reaktion wie mit 0,8 Promille Alkohol.
Das Braess-Paradoxon verblüffte das Publikum allgemein. Es zeigt, dass eine zusätzliche Handlungsalternative unter der Annahme rationaler Einzelentscheidungen zu einer Verschlechterung des Ergebnisses für alle führen kann.
Das gilt zum Beispiel für den Zubau neuer Straßen. Als praktische Folgerung daraus wurde in NRW in Baustellenbereichen mittels durchgezogenen Linien das unfallträchtige Fahrspur-Wechseln verboten.
Amüsiert zeigte sich der 51-Jährige über den Sachverstand vieler Entscheidungsträger. In seiner Praxis begegneten dem Forscher mitunter Richter in Verkehrsprozessen und Landes-Verkehrsminister, die selber keinen Führerschein besaßen. Telefonisch fragte er beim Landesministerium für Verkehr nach einer exakten Definition zu den vielgenannten "Rasern" und "Dränglern". Die Antwort war windelweich.
Nach einem überaus kurzweiligen Vortrag traten die gut 60 Besucher ohne weitere Stau-Probleme den Heimweg an.
Jürgen Neitzel
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