20.07.2010 (mhe)
"Ich glaube es nicht!“ Das ist ein - sich ständig wiederholender - Ausspruch aus einem Hape-Kerkeling- Sketch. Dieser Satz spricht mir zur Zeit förmlich aus der Seele. Nur steht er nicht wie bei Kerkeling für eine humorvoll vorgetragene Pikiertheit über die vermeintliche Empfindlichkeit anderer Menschen.
Mich bewegt in erster Linie das Handeln einer mir nicht bekannten Person. Doch fühle ich dagegen ausschließlich eine schiere Fassungslosigkeit.
Marburg in einer lauschigen Sommernacht: Viele Menschen flanieren gut gelaunt und ausgelassen in Richtung Wochenende durch das Wohnviertel, in dem ich seit fast einem Jahrzehnt lebe. Bis dato habe ich mich immer sicher gefühlt und wollte ganz bestimmt nicht, dass sich daran so schnell etwas ändert.
Wie an vielen Freitagabenden, versuchte ich wieder einmal krampfhaft, meine drei parallel laufenden Lieblings-Talksendungen gleichzeitig zu sehen. Kurz nach Mitternacht kam meine Mitbewohnerin von einem ausgedehnten Abendspaziergang zurück.
Und hier beginnt das Unglaubliche: Wir setzten uns zusammen und tauschten uns - wie so oft - über die Ereignisse des Tages aus. Dabei hockte sich meine Mitbewohnerin mit dem Rücken zum Rest der - sehr offen geschnittenen und von allen Seiten gut einsehbaren - Wohnung in den Türrahmen meines Zimmers.
Plötzlich bemerkten wir ein leises Scheppern. Wir horchten auf. Beunruhigt waren wir aber nicht.
Wir vermuteten, daß entweder mein Stubentiger oder eine andere Katze aus der Nachbarschaft die zum Lüften offenstehende Terrassentür genutzt hatte, um schnell mal zu einer Stipvisite vorbeizukommen. Meine Mitbewohnerin stand auf und ging in ihr Zimmer, aus dem die Geräusche gekommen waren.
Sie sah nur noch einen menschlichen Schatten davonlaufen. Außerdem fehlte ihr Rucksack. In ihm waren einige Wertsachen, Ausweise und andere wichtige Papiere.
Um es schon einmal vorwegzunehmen: Der Rucksack ist dank ehrlicher Finder wieder aufgetaucht. Das Bargeld und eine Digitalkamera hatten jedoch mittlerweile den Besitzer gewechselt.
Neben der Erleichterung über den glimpflichen Ausgang des Diebstahls bleibt schlußendlich doch ein ziemlich bitterer Nachgeschmack zurück. "Und denken Sie daran: Die Welt ist schlecht“, sagte einer der beiden Polizisten nüchtern zum Abschied, nachdem sie nachts um 1.15 Uhr die Anzeige vor Ort aufgenommen hatten.
In meinen Augen trifft der Begriff "Dreistigkeit" den Nagel aber viel besser auf den Kopf. Es ist schlimm genug, wenn die Abwesenheit der Bewohnerinnen und Bewohner ausgenutzt wird, in ihre Wohnungen oder Häuser einzusteigen. Doch wie weit muß die Hemmschwelle einer Person gesunken sein, wenn selbst die sichtbare und hörbare Anwesenheit der Bewohner nicht mal mehr davon abschreckt, sich unerlaubt Zugang zu einer fremden Wohnung zu verschaffen?
Man braucht vermutlich einige Nerven, dieses - offensichtliche und in jeder Sekunde greifbare - Risiko einzugehen, erwischt zu werden. Die Frage "Was wäre, wenn ... ?“ ist sicherlich müßig.
Nichtsdestotrotz hat sich seit diesem Ereignis aber vieles verändert. Den Luxus, bei herrlichstem Sonnenschein alle Terrassentüren unbeobachtet sperrangelweit aufzureißen und gleichzeitig schnell mal sorglos im Nebenzimmer zu verschwinden, leisten wir uns nicht mehr. Aktivitäten außerhalb der Wohnung werden noch stärker als vorher von einem zwanghaften Kontrollgedanken begleitet, ob auch ja alles ab- und zugeschlossen ist.
Übliche Vorsichtsmaßnahmen vor dem Schlafengehen wie zum Beispiel die zugeschlossene Wohnungstür, fest verschlossene Fenster und dicht verrammelte Rolläden haben auf einmal jeglichen Schutzcharakter eingebüßt. Jedes früher noch so vertraute Geräusch steht nun nämlich unter einem permanenten Generalverdacht, die eigene Sicherheit zu gefährden.
In diesen Schreckensmomenten ist dann kein Platz mehr für eine realistische Einschätzung der Situation. Am Ende bleibt die traurige Erkenntnis, daß unsere Privatsphäre nicht nur gestört, sondern im hohen Maße verletzt wurde. Die eigenen vier Wände als unumstrittener Ort der Zuflucht und Geborgenheit wackeln momentan bedenklich.
Mireille Henne
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