17.07.2010 (fjh)
"Es steht ein Wirtshaus an der Lahn!" Die Titelzeile eines bekannten Studentenlieds stimmt schon seit 40 Jahren nicht mehr. Für den Bau des sogenannten "Affenfelsen" musste das berühmte "Wirtshaus an der Lahn" Ende der 60er Jahre weichen.
Dem viel besungenen Wirtshaus hat Willi Schmidt jetzt ein weiteres Denkmal gesetzt: Sein Bühnenstück "Das Wirtshaus an der Lahn" feierte am Donnerstag (15. Juli) in der
Waggonhalle Premiere.
Bei Schmidts Stück handelt es sich aber weniger um eine geschichtliche Rückschau auf das berühmte Bauwerk oder gefühlsduseliges Schwelgen in der alten "Burschen-Herrlichkeit", sondern um Szenen aus einem Wirtshaus im alten Marburg. In die Handlung hat der Autor allerdings viel Lokalkolorit mit eingearbeitet.
Ein junges Pärchen verkriecht sich 1970 an der Stelle im Dickicht, wo dereinst das berühmte Wirtshaus gestanden hatte. Nach ihrem Schlaf erwachen die beiden Studenten plötzlich mitten im Wirtshaus und damit zugleich auch in einer anderen Zeit.
Mitte des 19. Jahrhunderts scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Doch die "Ordung" besteht aus Einschüchterung und Zensur, kleinlicher Doppelmoral und viel sozialem Elend.
Vorteile wie Nachteile der "guten alten Zeit" arbeitet Schmidt in seinem Theaterstück sehr gekonnt heraus. Durch die Zeitreise des Studenten-Paars kann er das Leben um 1970 mit dem um 1850 elegant vergleichen. Zudem eröffnet diese Konstruktion einige Möglichkeiten für nette Dialoge und Gags.
Der wachsame Professor Prisenitz entdeckt die beiden Studenten. Gisela trägt einen kurzen Minirock. Das findet der sittenstrenge Professor unerhört.
Die Wirtin rettet die beiden, indem sie sie als arme Verwandte aus Bochum ausgibt, die nach dem Tod ihrer Eltern zu ihr gekommen seien. Sie besäßen nicht einmal genug Geld für schickliche Kleidung.
Der gestrenge Sittenwächter lässt sich beschwichtigen. Die beiden Studierenden gehen daraufhin an die Arbeit im Wirtshaus.
Fuhrleute kommen herein. Mit ihnen kommt auch Musik und eine ausgelassene Stimmung.
Zu den Klängen von Gitarren und Akkordeon singen die Fuhrleute das bekannte Lied vom Wirtshaus und der Wirtin. Schon bald klatscht das Publikum mit.
Für Stimmung sorgen die "Lahntaler", die sowohl Volksmusik und volkstümliche Musik anstimmen wie auch rockigere Popmusik. Dadurch wird auch die Handlung immer wieder zu neuen Szenen übergeleitet.
Das Theaterstück pendelt zwischen Satire und Klamauk, dem fröhlichen Musikantenstadel und einer tiefschürfenden Bestandsaufnahme des sozialen Elends und der Auswirkungen des Fortschritts. Gekonnt hat der Autor heitere Dialoge und fröhliche Musikeinlagen mit nachdenklicheren Passagen verknüpft.
Dadurch wird das Ganze zu einer Art Karneval mit Tiefgang. Das ist Volkstheater im besten Sinne.
Der Soldat möchte nicht mehr kämpfen. Er hat die Kampfschrift des Gießener Medizinstudenten Georg Büchner dabei. "Der hessische Landbote" ruft zur offenen Revolution auf, was den gestrengen Professor wieder auf den Plan ruft.
Fuhrmann Hartmann hat eine junge Frau vom Ufer der Ohm mitgebracht. "Wo sollte ich sie denn sonst lassen, wenn nicht hier?"
Die Wirtin nimmt sie auf, denn sie hat "ein großes Herz", wie Hartmann meint. Erst später kommt heraus, dass die junge Frau aus Not und Verzweiflung ihren Säugling im Fluss ertränkt hat.
Die "gute alte Zeit" war nicht unbedingt besser als die moderne. Doch auch die neuere Zeit ist nicht unbedingt besser.
Schneller ist alles geworden und hektischer. Dabei ist manchmal auch die menschliche Wärme auf der Strecke geblieben.
Die Begrüßung der Menschen im Wirtshaus zeigt da noch eine andere Herzlichkeit. Die Regisseure Willi und Matze Schmidt haben diese menschliche Wärme ebenso gekonnt inszeniert wie die Geschichte insgesamt.
Sie ist eine vergnügliche und zugleich doch nachdenklich stimmende Bestandsaufnahme gesellschaftlichen und technischen Fortschritts. Mit viel Witz hat die Regie das auf die Bühne gebracht.
Wenn Uwe Lange in der Rolle des Justus als Wadenbeißer des Professors hechelt wie ein Hund, dann wird seine Rolle als Kettenhund der Obrigkeit sehr deutlich. Auch Willi Schmidt als Professor Priesenitz zeigt schauspielerische Qualitäten.
Herausragend war Philippa Chegwin als Wirtin. Ihre zupackende und zugleich herzliche Art brachte die Darstellerin absolut überzeugend auf die Bühne.
Die Regie hat ein Übriges getan, um die Inszenierung zugleich kurzweilig und eindringlich zu gestalten. In vielen Szenen unterstützen andere Schauspieler beispielsweise die Aussage eines Protagonisten durch die dazu passenden Gesten.
Allerdings wirkte die Travestie-Einlage von Utz Lambert als Soldat am Schluss etwas unpassend. Und auch die Szene der Ebsdorfer Krug-Verkäuferin Martha - gespielt von Marina Wagner - ist etwas zu monologisch ausgefallen, zumal sie in einem schwer verständlichen Dialekt spricht.
Ansonsten aber kann man den beiden Schmidts vom Waggonhallen-Team, die nicht miteinander verwandt sind, nur gratulieren. Ihr "Wirtshaus an der Lahn" ist ebenso spritzig wie sozialkritisch und dabei zugleich auch ein Genuss für Augen, Ohren und den Verstand.
Franz-Josef Hanke
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