15.07.2010 (mhe)
"Als mein Kollege Dirk Hülst mir von seinen Plänen erzählte, eine andere Form der Abschiedsvorlesung machen zu wollen, war ich hellauf begeistert!“ Mit diesen Worten eröffnete Prof. Dr. Maria Funder am Mittwoch (14. Juli) vor mehr als 70 Gästen die Abschiedsveranstaltung für Prof. Dr. Dirk Hülst im
Kulturladen KFZ.
Der Auftrag des Abends lautete, auf eine Rede zu verzichten, die im Rahmen solcher Veranstaltungen üblicherweise gehalten wird. Der Wunsch nach einer unkonventionellen Abschiedsfeier spiegelt in Funders Augen die Person Hülst sehr gut wieder. Hülst stelle dabei nicht nur das selbstverständlich Gegebene kritisch in Frage. Vielmehr mache er sich stets auf die Suche nach anderen kreativen Konzepten, die sich nicht ohne weiteres in die normalerweise vorhandenen Schablonen pressen lassen und wie so oft damit eine Anpassung an den Mainstream implizierten.
Für diese Lebensphilosophie stehe auch das Veranstaltungsmotto "In und Out – Visuelle und akkustische Illustrationen zu einem soziologischen Dunkelfeld". An Konstruktionen von "In und Out" orientiere sich Hülst nicht. Obwohl er beispielsweise bereits seit zwei Jahren pensioniert ist und keine vertragsgebundenen beruflichen Verpflichtungen mehr hat, engagiere er sich weiterhin in seinem Tätigkeitsfeld.
Die Leiterin des Arbeitsschwerpunktes Soziologie der Wirtschaft und Arbeit kam zu dem Schluß, dass ihm das Fach Soziologie und damit auch dessen Fachbereich sicherlich am Herzen liegt.
Hülst sei ein Querdenker mit interdisziplinärem Eigensinn. Sein Lehrangebot weise bis heute ein umfangreiches Repertoire an theoretischen und methodischen Zugängen auf. Das Themenspektrum seiner stets stark frequentierten Lehrveranstaltungen sei nicht auf die klassischen Angebote zu sozialwissenschaftlichen Methoden und Theorien begrenzt.
So habe Hülst versucht, das Interesse der Studierenden beispielsweise mit Titeln wie "Soziologische Filmkritik", "Unterhaltungssendungen im Fernsehen", "Ethno-Psychoanalyse zur Erforschung des Unbewußten in der Kultur", "Symbole des Alltags", "Musik-Soziologie" oder "Kunst und Gesellschaft" zu wecken. Hülst besitze dabei nicht nur die Fähigkeit, die Studentinnen und Studenten neugierig zu machen, sondern sie darüber hinaus für soziologische Theorien zu begeistern, indem er eine kritische Gesellschaftsanalyse aus unterschiedlichen theoriegeleiteten Perspektiven anregt.
In seinem eigenen - sehr persönlich gehaltenen - Vortrag bestätigte Hülst zunächst einmal die Begeisterung für seine Arbeit: "Ich bin hier 30 Jahre tätig gewesen; und von mir aus hätte es für mich auch noch etwas weitergehen können!"
Insbesondere die Arbeit mit Studierenden sei eine große Freude gewesen. Die Herausforderung sei ihm immer noch gegenwärtig, sich auf ein besonderes Verhältnis einzulassen.
Anknüpfend daran, erläuterte Hülst, warum er den akademischen Ritualen zwiespältig gegenüber steht: Zum einen erweckten diese Abschiedsvorlesungen häufig den Eindruck, als wollten die Vortragenden alle bisherigen Stationen ihres Hochschullebens unbedingt noch einmal erwähnt wissen. Ein viel gewichtigerer Grund für sein Zaudern sei zum anderen aber die Kritik an der Bewahrung überholter Traditionen, die in ihrer eigentlichen Funktion zur Herstellung sozialer Ordnung nicht ohne weiteres in die heutige Gegenwart übertragen werden könnten. Problematisch sei dabei, daß Traditionen und Riten normativ und moralisch legitimiert und als generell verbindlicher - struktur- und sicherheit gebender - Maßstab vorausgesetzt werden.
"Ich jedoch habe zu einer Zeit studiert, in der Studierende insbesondere die Verbindlichkeiten der Traditionen und ihrer Riten als Hindernis, Zumutung und als Mechanismen der Bewahrung überkommener Macht- und Herrschaftsansprüche empfunden haben", berichtete der Soziologe.Das habe auch für die administrative Macht der Universität gegolten und machte sich speziell in ihren rituellen Zeremonien und hierarchischen Strukturen bemerkbar, erinnerte sich Hülst.
Der politische Widerstand gegen jedes Ritual habe damit die zentrale Frage nach dem Zugelassen-Sein, der Akzeptanz und Teilhabe sowie letztendlich der Durchbrechung von Exklusivität gestellt. „Das traditionelle Verhältnis von "In und Out" sollte durcheinander gewirbelt, aufgelöst und verändert werden. Statt den Polaritäten wie "innen versus außen" oder "vorher versus nachher" nachzugeben, könnte die Herstellung sogenannter "Übergänge" einen individuellen Freiraum menschlichen Daseins schaffen.
So bezeichnet meine Thematische Floskel In und Out nicht etwa die Qualität eines flexiblen Menschen, der doch nur ein modernes Konstrukt von Ohnmacht ist, sondern eine riskante soziale Grundhaltung und spezielle Ausdrucksweise menschlichen Neugier-Verhaltens.“ Mit dieser Feststellung leitete Hülst dann die in der Einladung angekündigte Präsentation der visuellen und akkustischen Illustrationen seines Vortrags ein.
Eine Reihe von an die Wand projizierten Bildern beleuchtete dabei die im Vortrag entwickelten Gedanken aus unterschiedlichen Perspektiven. Es waren aus dem Alltag gegriffene Szenerien, in denen versucht wurde, die Widersprüchlichkeiten und die scheinbare Unmöglichkeit real existierender Lebensräume und –träume zu erobern oder gegebenenfalls zu verteidigen.
Die musikalische Übersetzung der theoretischen Ausführungen übernahm das "Marcus-Schinkel-Trio". Marcus Schinkel am Piano, Fritz Roppel am Cembalo und E-Baß, sowie Wim de Vries am Schlagzeug interpretierten Klavierstücke von Ludwig van Beethoven in einem mitreißenden Jazz-Gewand.
Auch hier erfüllte sich laut Hülst in vielfältiger Weise die Gestaltung von Übergängen und Zwischenräumen: Beethoven habe dem Piano bis dato noch nicht dagewesene, neue und frische Klänge entlockt. So hätten seine Werke in der Musikgeschichte größere Wirkung ausgelöst als jede andere Musik und es habe nur Komponisten vor und nach Beethoven gegeben.
Die kompositorische Auseinandersetzung und Übersetzung der jeweiligen Klavierstücke in Jazz-Strukturen sei gleichfalls ein Ausdruck des vorgestellten Gedankenmodells. Aufschlußreich und gleichsam unterhaltend waren außerdem die um die Musikstücke eingestreuten und von Schinkel charmant moderierten Anekdoten zu Beethoven, die wiederum dessen streitbaren - komplizierten und sich somit oftmals zwischen den Stühlen bewegenden - Charakter beschrieben.
Mit dem vom Publikum begeistert aufgenommenen Konzert des Trios bedankte sich Hülst bei seinen Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die langjährige, freundliche und konstruktive Zusammenarbeit. Mit sogenannten Rausschmeißer-Liedern begleitete Hülst zum Abschluss der - bis in den späten Abend unter extrem tropisch-heißen Wetterbedingungen andauernden - Veranstaltung ebenfalls unter viel Applaus das Marcus-Schinkel-Trio mit Hingabe am Saxophon. Dabei erhielt er Unterstützung durch einen guten Freund an der Trompete.
Mireille Henne
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