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Kritik war verboten


Reich-Ranicki sprach über Literaturkritik

06.07.2010 (fjh)
"Kritik war verboten", erklärte Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki. Aus diesem Grund habe es die Literaturkritik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg viel schwerer gehabt als in anderen europäischen Ländern.
Anlässlich der Eröffnung der "Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland" nahm der 90-jährige Publizist am Montag (5. Juli) im Hörsaalgebäude an einem Podiumsgespräch zum Thema "Literaturkritik als Beruf" teil. Eingeladen hatte Prof. Dr. Thomas Anz vom Institut für neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität, der die Veranstaltung auch leitete.
Zu Beginn zitierte er Reich-Ranicki mit der Aussage: "Literaturkritik ist mein Beruf. Ich habe keinen anderen."
Die Bezeichnung des Publizisten als "Literatur-Papst" wies der Betroffene weit von sich: "Das ist Unsinn. Ich bin nicht unfehlbar!"
Literaturkritik bestehe nicht in erster Linie aus Lob oder Tadel, sondern vor allem aus einer Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk. Ziel sei, dem Publikum gute Literatur zu vermitteln.
Insofern seien Literaturkritiker "Anwälte der Literatur", wie der Titel eines Buchs von Reich-Ranicki lautet. Entlehnt hat er ihn seinem Vorgänger Gotthold Ephraim Lessing. Ebenso wie Heinrich Heine, Friedrich Schlegel, Ludwig Börne und Kurt Tucholsky hat auch Lessing die Werke anderer Autoren rezensiert.
"In Deutschland gab es nur wenige gute Kritiker", bedauerte Reich-Ranicki betrübt. "Heute gibt es fast gar keine mehr."
Seine Verbindung zu Anz geht auf die gemeinsame Arbeit bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zurück. Unter dem Redaktionsleiter Reich-Ranicki arbeitete Anz dort im Ressort Literatur.
Unter dem Titel "Fabelhaft, aber falsch" hat Franz-Josef Görtz ein Buch voller Anekdoten über Reich-Ranicki veröffentlicht. Zum Abschluss der Veranstaltung trug der ehemalige FAZ-Redakteur einige davon vor.
Vor der Veröffentlichung habe er das Manuskript selbstverständlich seinem ehemaligen Redaktionsleiter zum Lesen gegeben. Er habe gezittert davor, dass Reich-Ranicki vielleicht die eine oder andere Geschichte kritisieren werde.
Doch der Kritiker habe nur einen einzigen Punkt angemahnt: Er wollte einen Punkt durch einen Doppelpunkt ersetzen.
Eine weitere Geschichte hat Görtz selbst bei einem Treffen von Literaten und Kritikern miterlebt. Martin Walser habe dort zu Reich-Ranicki gesagt: "Wenn es in Deutschland wieder KZs gäbe, säßen wir beide darin." Darauf habe Reich-Ranicki dem Schriftsteller sehr schlagfertig geantwortet: "Ja, aber Sie auf der Seite der Wärter!"
Franz-Josef Hanke
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