05.07.2010 (fjh)
"Wenn Sie einmal etwas über sich selbst wissen wollen, dann wenden Sie sich an uns!" Mit diesen Worten wandte sich Prof. Dr. Thomas Anz an den Literaturkritiker Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki.
Im Beisein ihres hochbetagten Namensgebers wurde die neue "Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland" der
Philipps-Universität am Montag (5. Juli) eröffnet. In einem Kellerraum an der Bunsenstraße sammeln die Forscher Dokumente zur Arbeit des 1920 im polnischen Włocławek geborenen Publizisten sowie seine Texte in Zeitungen und Büchern.
Zahlreiche Aktenordner enthalten Artikel, die aus Zeitungen ausgeschnitten und aufgeklebt wurden. Sie dokumentieren Reich-Ranickis unfangreiche Arbeit als Journalist.
Der älteste Text in deutscher Sprache ist demnach am 30. November 1957 in der Hamburger Wochenschrift "a href="http://www.zeit.de" target="_blank">Die Zeit erschienen. Reich-Ranickis erste Veröffentlichung nach seiner Umsiedlung nach Deutschland erschien am 18. August 1958 in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).
Vor allem diese beiden Blätter haben in den darauffolgenden Jahrzehnten zahlreiche Rezensionen von Reich-Ranicki veröffentlicht. Er publizierte aber auch in etlichen anderen Zeitungen und Zeitschriften.
Hinzu kommen Bücher über Literatur und über Literaturkritik sowie seine Autobiografie "Mein Leben" auf Deutsch und in zahlreichen Übersetzungen. Auch diese Werke werden in der Arbeitsstelle gesammelt.
Mitschnitte seiner Fernsehsendung "Das literarische Quartett" finden sich ebenfalls in der Sammlung. Neben Fernseh-Interviews interessieren sich die Forscher auch für Audio-Publikationen, die Reich-Ranickis Stimme oder seine Arbeit wiedergeben.
Außerdem archivieren die Marburger Wissenschaftler seinen Briefwechsel mit Verlagen und Verlegern. Schließlich sammeln sie seine Exemplare von Büchern, die er rezensiert hat.
Zahlreiche Anmerkungen in diesen Büchern belegen seine gründliche Arbeitsweise. Anz berichtete, dass Reich-Ranicki ein sehr langsamer und aufmerksamer Leser sei.
Seine gründliche Vorbereitung auf jede Rezension belegen auch die Mappen, die er über verschiedene Schriftsteller angelegt hat. Wahllos zog Anz eine dieser Mappen aus dem Regal heraus. In ihr fanden sich Unterlagen über Martin Walser.
Mit Hilfe des Archivs möchte der Marburger Professor Studierenden eine Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit zu einem literaturwissenschaftlichen Thema ermöglichen, dessen Schwerpunkt die Literaturkritik oder die Literaturvermittlung ist. Schließlich bietet die Philipps-Universität am Institut für Neuere deutsche Literatur den Studien- und Forschungsschwerpunkt "Literaturvermittlung in den Medien" an.
Zustandegekommen ist die Sammlung durch die gemeinsame Arbeit von Anz und Reich-Ranicki in der FAZ-Redaktion. Die seit 1982 aufgebaute persönliche Beziehung zwischen dem Redaktionsleiter und seinem jüngeren Mitarbeiter hat bis heute gehalten und nun auch wissenschaftliche Früchte getragen.
"Bei meinen etwa vierteljährlichen Besuchen habe ich immer etwas mitgenommen", berichtete Anz. Mit zunehmendem Alter habe Reich-Ranicki immer stärker den Drang verspürt, seine Wohnung aufzuräumen und seine Dokumente in gute Hände abzugeben.
Doch nicht alle wesentlichen Schätze aus Reich-Ranickis Sammlung sind nun in der Marburger Arbeitsstelle zu finden. Seine Korrespondenz mit Schriftstellern und die von ihnen signierten Bücher hat das Deutsche Literatur-Archiv in Marbach am Neckar erhalten.
Die Marburger und die Marbacher Wissenschaftler arbeiten allerdings eng zusammen. So kündigte Anz an, dass er Exemplare mit Widmung, die in Marburg gelandet sind, nach Marbach weiterreichen werde.
Zunächst möchten Anz und seine Mitarbeiter die Marburger Bestände katalogisieren. Danach sollen sie der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen.
Ziel der Arbeitsstelle ist die Digitalisierung der Rezensionen, die derzeit noch in den Aktenordnern abgeheftet sind. Dann könne man wesentlich leichter nach bestimmten Inhalten oder Themen suchen.
Allerdings sei dafür Geld notwendig, das er nun herbeischaffen müsse, erklärte Anz. Es werde sicherlich eine Menge Arbeit geben.
All das hörte sich Reich-Ranicki weitgehend schweigend an. Als Anz aber eine Rezension über Max Frischs "Montauk" aus einem Ordner zog, blitzte ihn ihm der bekannte Eifer auf. Mit großem Enthusiasmus bekundete der 90-jährige Publizist seine Einschätzung zu diesem Buch: "Der Stiller" und "Homo Faber" seien im Vergleich dazu weitaus weniger wichtige Werke des Schweizers.
Franz-Josef Hanke
Text 4134 groß anzeigenwww.marburgnews.de