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Abwracken oder ausbauen


Hesse stellte bürgerfreundliches Bahn-Konzept vor

05.05.2010 (fjh)
"Verknüpfung, Verknüpfung, Verknüpfung!" So lautet das Credo von Prof. Dr. Wolfgang Hesse für eine fahrgastfreundliche Umgestaltung der Bahn. Unter dem Titel "Gleise abgewrackt oder Fahren im Deutschland-Takt – quo vadis, Deutsche Bahn?" referierte der emeritierte Informatikprofessor am Dienstag (4. Mai) in der Volkshochschule Marburg (VHS) über zukunftsweisende Verkehrskonzepte.
Mit zahlreichen Grafiken und Folien belegte er seine Ausführungen. Seine Kritik am Management der Deutschen Bahn AG (DBAG) begründete er mit umfangreichem Zahlenmaterial.
Danach rangiert die DBAG im europäischen Vergleich auf einem hinteren Platz. Bei der Entwicklung des Streckennetzes ist sie neben der polnischen Bahn sogar das Schlusslicht.
In den zurückliegenden 20 Jahren hat die DBAG ihr Streckennetz um 6.000 Kilometer verringert. Selbst die italienische FS Italia hat ihr Netz in der gleichen Zeit noch erweitert.
Einem Schwund von 17 Prozent in Deutschland stehen 10 Prozent Zuwachs in der Schweiz gegenüber. Auch wenn dort nicht alles optimal sei, hält Hesse die schweizerische Eisenbahn doch für ein vorbildliches System.
"Verknüpfung hat oberste Priorität", begründete er seine Einschätzung. Der "Integrierte Taktfahrplan" (ITF) erhöhe die Fahrgastfreundlichkeit gleich in mehrerer Hinsicht erheblich.Bei diesem System werden Knotenpunkte herausgesucht, an denen sich die Züge aus unterschiedlichen Richtungen zur gleichen Zeit treffen. Dann können die Reisenden von jedem Zug in jede andere Richtung umsteigen. Langes Warten auf windigen Bahnsteigen oder in zugigen Wartehallen entfällt.
Ein Ausbau der Strecken muss nach Hesses Überzeugung immer der Maxime folgen, dass damit eine Optimierung des ITF erreicht werden kann. Zudem solle ein flächendeckendes Netz für alle Vorrang haben vor dem Bau einiger weniger Schnellstrecken.
Der Ausbau des Intercity-Express (ICE) von Frankfurt nach Köln habe wenig gebracht, meinte Hesse. Zwar rase der ICE mit einer Höchstgeschwindigkeit von 300 Kilometern pro Stunde durch den Westerwald, doch zockele er vom Frankfurter Hauptbahnhof zunächst über marode Weichenstrecken bis zum Flughafen und komme auch im Vorfeld des Kölner Hauptbahnhofs nur langsam voran. Im Endergebnis liege das Durchschnittstempo
auf der Strecke deswegen trotz der rasanten Spitzengeschwindigkeit kaum höher als 130 Stundenkilometer.
Noch zeitaufwendiger werden Bahnfahrten, wenn Reisende wegen aufgelassener Strecken riesige Umwege fahren müssen. Als Beispiel nannte Hesse die Verbindung von Frankenberg nach Bielefeld, die statt etwa 150 Kilometern Luftlinie nach dem Abbau der Bahnverbindung zwischen Frankenberg, Korbach und Brilon nun über Kassel und Hannover führt. Deswegen müssen Reisende den Preis für eine Entfernung von gut 400 Kilometern bezahlen und die entsprechende Fahrtdauer in Kauf nehmen.
Als weiteres Beispiel nannte Hesse die Verschiebung der Abfahrtszeiten des Intercity (IC) zwischen Karlsruhe und Hamburg um eine halbe Stunde. Zwischen Frankfurt und Kassel wurde damit der bisherige Stunden-Takt abgeschafft. Auch die Anschlüsse an andere Züge sind in Frankfurt und Kassel seither nicht mehr gewährleistet.
Hesse hält diese Maßnahme für eine gezielte Zerschlagung funktionierender Strukturen. "Das ist politisch gewollt", argwöhnte er. Durch die schlechtere Vertaktung verringere sich das Fahrgastaufkommen. Dann werde die Verbindung nach und nach ausgedünnt, da die Nachfrage ja zu gering sei.
Angesichts solcher Fahrpläne sei es auch kein Wunder, dass nur 1,8 Promille der Bundesbürger eine "Bahncard 100" besitzen, die zum Preis von etwa 3.600 Euro zur kostenlosen Nutzung aller DBAG-Züge für ein Jahr berechtigt. Etwa 3,7 Prozent der Deutschen besitzen eine Bahncard 50 oder Bahncard 25, die den Fahrpreis auf die Hälfte oder wenigstens zwei Drittel des Normaltarifs reduzieren.
In der Schweiz hingegen verfügen 3,7 Prozent über eine Netzkarte. 25,4 Prozent der Schweizer fahren mit dem sogenannten "Halbtax-Abo" zm halben Preis mit der Bahn.
Seit der Privatisierung der Deutschen Bahn im Jahr 1994 sei der Service hierzulande ständig schlechter geworden. Gebrochene Achsen und herausfallende Türen beim ICE gehörten ebenso zu den Begleiterscheinungen falscher Sparsamkeit wie defekte Türen bei Regionalzügen.
"Das probate Mittel des Bahn-Managements, Geld zu sparen, sind die Langsamfahr-Stellen", erläuterte Hesse. Wenn Gleise eigentlich ausgebessert oder Brücken saniert werden müssten, dann lässt man die Züge dort einfach langsamer fahren. Beim nächsten Fahrplanwechsel werde das dann gleich eingearbeitet.
Nicht nur zum Schutz der Umwelt und zur Schonung der Ressourcen sei ein besseres Bahn-System notwendig, meinte Hesse. Auch wirtschaftlich sei ein flächendeckendes Netz, das in integralem Takt befahren wird, langfristig günstiger.
Zur Finanzierung notwendiger Investitionen brachte Hesse den Vorschlag einer Bahn-Anleihe ins Spiel, mit der Bürgerinnen und Bürger ihr Geld in den Strecken-Ausbau investieren. Die Dividende könnte dann vielleicht in Form von Freifahr-Gutscheinen ausgezahlt werden.
Franz-Josef Hanke
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