04.05.2010 (jnl)
Man geht nicht oft auf Konzerte von Bands, von denen man trotz Internet bislang nichts gehört hat. Beim Auftritt der Istanbuler Band "Bandista" am Montag (3. Mai) in der
Waggonhalle wurde dennoch niemand enttäuscht. Rund hundert Leute erlebten eine extrem tanzbare Mixtur aus Speedfolk und melodiösem Agitprop.
Die seit 2006 bestehende Band aus der türkischen Kultur-Metropole am Bosporus versteht sich selbst als
Kollektiv. Die Musiker wollen nicht - wie eine gewöhnliche Rockband - vor allem Spaß haben und berühmt werden, sondern eine jugendrevolutionäre "Message" weitertragen. Daher lehnen sie es auch ab, mit individuellen Namen in Presseberichten zu erscheinen. Privat nennen sie ihre Vornamen schon.
Die siebenköpfige Band tritt auf in der Besetzung E-Bass, Akkordeon, E-Akustikgitarre, Keyboards, Leadgesang sowie mit einem Virtuosen an Saz und Klarinette sowie Altsaxophon. Der eigene Tonmixer wird beim Musiker-Kollektiv mitgezählt.
Der Verzicht auf einen Schlagzeuger und Perkussionisten markiert den Abstand zu Rockband-Klischees. Auf der Bühne fällt auf, dass für jedes Band-Mitglied ein eigenes Gesangsmikrofon bereitsteht.
Der musikalischen Wucht der Combo steht das ungewöhnliche Konzept nicht entgegen. Der Sound ist dicht gewebt aus instrumentalem Können, vielstimmigem Gesang sowie Laptop-Samples des Keyboarders.
Bereits nach den ersten Stücken hielt es kaum jemand im Saal auf den Sitzen. Tanzen war angesagt; der Speedfolk ging allen wie von selbst in die Beine.
Der sympathische, bewegliche Sänger tanzte auf der Bühne den Limbo, kniete und hüpfte, schlüpfte dabei in tausend spontane Posen. In einer davon spielte er kniend bei einem Solo seines Kollegen an der türkischen Laute "Saz" den grenzenlos bewundernd zu seinem Idol aufblickenden Fan.
Diese sehr theatralische, ironisch-pathetisch verspielte Bühnenshow wundert den Zuschauer manchmal. Aber sie ist doch ein beständiger Blickfang.
Der Klarinettist wirkte als musikalischer Kopf der Gruppe. Als einziger Multi-Instrumentalist brillierte er immer wieder durch virtuose Soli auf seinen Blasinstrumenten ebenso wie auf der Laute Saz.
Entgegen dem kollektiven, auf absolute Gleichwertigkeit der Bandmitglieder zielenden Konzept, sind der Sänger und der Saz-Spieler auf der Bühne doch einigermaßen herausgehoben. An ihnen hängt viel. Mick Jagger und Keith Richards lassen als Rollen-Modell grüßen.
Ganz besonders wichtig sind allen Mitgliedern der Band die linken politischen Inhalte. "Die Freiheit ist da, wo du bist" lautet ein Song-Ttitel. Das könnte zugleich das Motto der Bandistas generell sein.
Höhepunkt des Auftritts war eine eigenständige Version des Reggae-Titels "Burn Babylon Burn". Ihre Solidarität mit Streikenden und Kämpfenden bezieht sich nicht nur auf Menschen in der Türkei. Auch dem - bei Jugend-Unruhen in Griechenland 2008 durch Polizeischüsse umgekommenen - Alexandros erklärten sie ihre Brüderschaft.
Den regelmäßig demonstrierenden Müttern "verschwundener" junger Kurden gewidmet ist der Song "Samstag Mittag". Ein ähnliches Phänomen mahnwachender Mütter gibt es genauso in Moskau wie in Buenos Aires.
Überhaupt erweisen die türkischen Musiker sich als eine sehr international ausgerichtete Combo. Sie singen auf Türkisch. Etliche Ansagen machten sie auch auf Englisch.
Einige Stücke klingen nach russischem Folklore-Ursprung. Andere Wurzeln liegen in der Gypsy-Musik und im Klezmer. Gegen das Etikett "Weltmusik" wehrt die Band sich dennoch.
Bei den wenigen ruhigeren Stücken vergleicht man sie spontan mit der französischen Band "Bratsch", die sie auch selber neben "The Clash" als Einfluss benennen. Die fulminante Zugabe war ein bekanntes Lied der italienischen Linken: "Bella Ciao".
Vermutlich wird man die Bandistas, die gerade eine Europa-Tournee durch Österreich, die Niederlande, Frankreich und hauptsächlich Deutschland führt, in den nächsten Jahren auf zahlreichen Festivals treffen. Auf dem TTF Rudolstadt werden sie gefeiert werden. Überall wo die "Uni brennt" und die Bewegung der europäischen Bildungsproteste aufersteht, kann man sich einen Bandista-Auftritt bestens vorstellen.
Jürgen Neitzel
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