14.04.2010 (jnl)
Sind die Theater-Klassiker noch zeitgemäß? Mit Jean-Baptiste Molières komödiantischer Farce "Die lächerlichen Preziösen" trat am Dienstag (13. April) in der
Waggonhalle die französische Gruppe "La Boîte à jouer" an, die Probe auf's Exempel zu machen.
Obwohl das Stück von 1659 in Originalsprache hohe Ansprüche an das Sprachverständnis der Zuschauer stellte, waren die Sitzreihen des Theatersaals voll besetzt. Molière ist aber auch ein Klassiker, dessen Texte zum Lektüre-Kanon der Französisch-Leistungskurse zählen. Das Theatererlebnis live statt als Video-Konserve lockte denn auch zahlreiche Gymnasiasten und ihre Lehrer, Romanistik-Studenten sowie Franzosen herbei.
Geboten wurde ihnen eine schwungvolle Inszenierung mit jugendlichen Schauspielern, die sich aber sehr konservativ "werktreu" an den Theatertext aus dem 17. Jahrhundert hielt. Abgesehen von Text und Plot des Stücks ging die Regie indes frei mit dem Bühnenstoff um.
Die Kostümierung war ein phantasievolles Patchwork aus den 50er-bis 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Das reichte von biederem 50er-Jahre-Anzug des geplagten Vaters Gorgibus bis zur Hippie- und Motorradkluft der Schwindler Mascarille und Jodelet. Als Musikanten für die Party im Stück nahm man keine historischen Drehleier-Spieler, sondern einen Disc-Jockey mit Mini-Lightshow.
Die Handlung des 45-minütigen Komödienstoffs ist leicht geschildert. Zwei abgewiesene Brautwerber aus der besseren Gesellschaft beschließen, sich an den beiden "hochmütigen" jungen Damen zu rächen. Sie schicken zwei ihrer Bediensteten fein verkleidet hin, um sie hereinzulegen.
Als diese beiden Diener mit viel romantischem Schmalz und Großtun als Herzensbrecher Erfolg haben, werden sie im Beisein der Damen demütigend durchgeprügelt. Die simple Moral "Träum nicht herum, sondern halt dich an die materiellen Tatsachen" wird vorexerziert.
Am Ende ordnet sich alles nach vorgegebenen Reichtums- und Machtverhältnissen. In Molières Farce sind die Träumer und Romantiker einfach nur lächerlich.
Beeindruckend an der Umsetzung des Bühnenstoffs war die Begeisterung und Spielfreude der überwiegend jungen - 15- bis 19-jährigen - Schauspieler. Glänzend besetzt waren insbesondere die drei Hauptrollen, der Blender Mascarille sowie die beiden "Provinzgänse" Magdelon und Cathos.
Ihre recht umfangreichen Textpartien kamen nicht nur flüssig, sondern voller Elan und auch körpersprachlich überzeugend rüber. Das ist bei diesem 350 Jahre alten Bühnenstoff keineswegs eine Kleinigkeit.
Ein einziger Nebendarsteller, der geprellte Brautfreier La Grange, fiel ein wenig negativ auf. Er gab der Versuchung nach, mit vollem, überhöhtem Tempo zu sprechen. Nur Eigensprachler kamen da noch mit.
Großartig hingegen löste der älteste unter den Darstellern in der Rolle des spießbürgerlichen Vaters Gorgibus seine Aufgabe. Seine Interpretation der Figur als Charakterrolle mit gemessenem bis wütendem Tonfall in näselnder Stimmlage war ein Genuss für sich.
Die Kostümierung der beiden Brautfreier aus den besseren Kreisen als Tennisspieler in kurzen Hosen-Sportdress verblüffte etwas. Dass sie von den umworbenen Damen ziemlich handgreiflich hinausgeworfen wurden, erstaunte ebenfalls.
Im übrigen war die Inszenierung dramaturgisch gelungen. Keiner der jungen Darsteller fiel aus der Rolle oder war ihr nicht gewachsen. Selbst die ganz kleinen Rollen als Diener und Musiker überzeugten. Das Bühnenbild aus ein paar Wandelementen und minimalem Dekor war passgerecht, einfach und gut.
Ob dieses klassische Theaterstück dem Publikum des 21. Jahrhunderts noch etwas zu sagen hat, muss allerdings eher verneint werden. Die darin transportierte Moral ist hoffnungslos vorgestrig.
Das Menschenbild erscheint undemokratisch. Den Dienern im Stück wird nahezu keine eigene Menschenwürde zugestanden.
Das eigentlich lohnende Thema im Stück, dass junge, romantische Menschen ihre Vorbilder aus den Medien ihrer jeweiligen Zeit ziehen, wurde nicht einmal angepackt. Die Entscheidung, eine "werktreue" Umsetzung des Bühnenstoffs zu inszenieren, vertrug sich wohl nicht mit einer zeitgemäßen Interpretation.
Abgesehen von diesem Mangel an gedanklicher Dimension bekam das Marburger Publikum eine sehr unterhaltsame Theateraufführung zu sehen. Die jugendlichen Schauspieler trugen die Inszenierung voller Begeisterung. Sie "rockten". Die mitveranstaltende Deutsch-Französische Gesellschaft hat insofern mit ihrem diesjährigen Theaterabend wieder einmal ins Schwarze getroffen.
Jürgen Neitzel
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