21.03.2010 (fjh)
Wir warten auf den Regional-Express nach Kassel. Es ist Mittwoch (17. März) gegen 10.20 Uhr. Am Bahnsteig 5 des Marburger Hauptbahnhofs hat sich eine größere Gruppe unterschiedlichster Menschen versammelt.
Alle zwei Stunden verlässt ein Regional-Express (RE) den Marburger Hauptbahnhof nach Norden in Richtung Kassel. Ebenso oft fahren Gegenzüge von Kassel nach Frankfurt auf der sogenannten "Main-Weser-Bahn". Hinzu kommen – ebenfalls in zweistündiger Folge – Intercity-Züge (IC) zwischen Hamburg und Karlsruhe.
Ein Doppelstock-Zug hält an. Wir steigen ein.
Fünf Stunden wird die Fahrt nach Leipzig dauern. Umsteigen muss man dabei in Kassel-Wilhelmshöhe und Braunschweig.
Bei unserem letzten Besuch in Leipzig sind wir von Kassel aus noch über Eisenach gefahren, wo wir in einen Intercity-Express (ICE) nach Leipzig umsteigen konnten. Durch Erfurt, Weimar und Gotha führte uns der Weg damals noch.
Doch mit dem Fahrplanwechsel Mitte Dezember 2009 hat die Deutsche Bahn AG (DBAG) die Abfahrtszeiten der IC-Züge zwischen Hamburg und Karlsruhe um eine halbe Stunde verschoben. Seither gibt es zwischen Kassel, Gießen und Frankfurt keinen Stunden-Takt mehr.
Also müssen wir den Umweg im ICE über Braunschweig nehmen. Durch Magdeburg, Köthen und Halle bringt uns ein IC dann nach Leipzig.
Von Donnerstag (18. März) bis Sonntag (21. März) findet dort die
Leipziger Buchmesse statt. Umrahmt wird die Messe durch das Programm "Leipzig liest" mit Lesungen von 1.500 Autoren allüberall in der Stadt.
Mit der Straßenbahn fahren wir vom Hauptbahnhof aus zu unserem Gastgeber. Er ist ein alter Bekannter aus Marburg, der inzwischen in Leipzig arbeitet.
Ein dichtes Netz von Straßenbahnstrecken erschließt die Leipziger Innenstadt. Auch die Messe ist mit der Trambahn erreichbar.
Schon früh am Donnerstagmorgen begeben wir uns auf den Weg dorthin. Wir wollen rechtzeitig ankommen, bevor die Straßenbahnen von Messebesuchern überfüllt sind.
Vom Hauptbahnhof aus dauert die Bahnfahrt zur Neuen Messe annähernd 25 Minuten. Obwohl die Straßenbahnen während der Buchmesse etwa fünf Minuten nacheinander abfahren, sind die morgendlichen Fahrten meist überfüllt.
Dank des frühen Aufstehens erhalten wir aber noch zwei Sitzplätze nebeneinander. Bereits gegen 9.15 Uhr checken wir uns beim Pressezentrum ein.
Mit einem gültigen Presseausweis stehen Journalistinnen und Journalisten einige Veranstaltungen offen, die für "normale Sterbliche" nicht zugänglich sind. Auch gibt es für sie einen eigenen Pressebereich.
Von dort begeben wir uns zur Halle 3. Mein Hauptinteresse gilt nämlich den Hörbüchern.
Seit Oktober 2000 stellt das
fjh-Journalistenbüro das Rezensions-Magazin
Hörbuchtipps online. Ein Jahr später ist für Kinder noch das Magazin
Hörbuchkids hinzugekommen.
Für diese beiden Online-Publikationen bin ich auf der Suche nach aktuellen Neuigkeiten aus der Welt des Hörbuchs. Kontaktpflege mit Verlagen und die Akquisition von Rezensions-Exemplaren sind unerlässlich zur Erfüllung meiner Aufgabe eines Redakteurs der beiden Magazine.
Am Stand des
Griot-Hörbuchverlags erfahre ich, dass dort am Montag (29. März) ein Audiobuch von Stephan Thomes Roman "Grenzgang" erscheinen soll. Das sei für uns als Marburger doch sicherlich interessant, meint die Standbetreuerin.
Gelesen wird der Text des in Biedenkopf aufgewachsenen Autors von Nina Hoger und Matthias Brandt. Thome war mit seinem Debüt auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2009 gewesen. Das Buch behandelt die Entwicklung seiner Protagonisten anhand des alle sieben Jahre stattfindenden Fests einer fiktiven Provinzstadt.
Ohne Zweifel hat der Autor dabei aber an seinen Heimatort Biedenkopf gedacht. Die Frau am Stand berichtet uns, der Biedenköpfer Grenzgangs-Verein habe ihrem Verlag nicht gestattet, die Hymne des Fests für das Hörbuch zu benutzen. Der Roman sei "nicht in unserem Sinne", habe es zur Begründung geheißen.
Die örtliche Sparkassen-Filiale hingegen erwartet beim nächsten Fest möglicherweise mehr als 1.000 zusätzliche Besucher aus aller Welt allein wegen des erfolgreichen Romans. Weltweit ist der Biedenköpfer Grenzgang durch das gleichnamige Buch bekannt geworden.
Die engstirnige Kleinlichkeit der Provinz-Vereinsmeier habe den Autor zu der Überlegung veranlasst, er könne ja gleich einen nächsten Band in Angriff nehmen, berichtet die Standbetreuerin. Wir können nur schmunzeln über so viel Provinzialität so nah bei Marburg.
Ab 16 Uhr findet in der sogenannten "Glashalle" die Verleihung des "Preises der Leipziger Buchmesse" statt. In drei Kategorien wird diese Auszeichnung seit 2005 jedes Jahr vergeben. Für diese Veranstaltung benötigen selbst Journalisten spezielle Eintrittskarten.
Wir haben uns aber gerade noch rechtzeitig akkreditiert. Erwartungsvoll nehmen wir unsere Plätze ein.
Georg Klein erhält die Auszeichnung in der Kategorie "Belletristik" für seinen "Roman unserer Kindheit". Der Übersetzer Ulrich Blumenbach bekommt den Preis in der Kategorie "Übersetzung" für seine Übertragung des Romans "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace. In der Kategorie "Sachbuch/Essayistik" wird Ulrich Raulff für sein Buch "Kreis ohne Meister - Stefan Georges Nachleben" geehrt.
Mit seiner Dankesrede erweckt Raulff unsere Sympathie. Sie bringt uns zum Schmunzeln.
Er habe seine Arbeit über den Dichter und den nach ihm benannten "George-Kreis" für ein Buch für wenige und für einen literarischen Bastard gehalten, erklärt er. Die Jury habe ihn jedoch widerlegt. Nun müsse er versuchen, mit dieser Fehleinschätzung zu leben.
Hinterher treffen wir ihn bei einem Fototermin. Als der Fotograf einige Minuten später mit seinen Aufnahmen fertig ist, sprechen wir den frisch gebackenen Preisträger an.
Im Hauptberuf ist Raulff Archivar. Er arbeitet beim Deutschen Literatur-Archiv in Marbach am Neckar.
Kurz kommen wir miteinander ins Gespräch. Wir stellen uns als Journalisten aus Marburg vor.
Er habe in Marburg studiert, erzählt Raulff uns. Im Sommer werde er darüber einen Vortrag unter dem Motto "40 Jahre danach" halten. Eingeladen habe ihn die neue Universitätspräsidentin Prof. Dr. Katharina Krause.
Wir verabschieden uns mit den besten Wünschen von Raulff. Ob wir ihn im Sommer in Marburg wiedersehen werden?
Gegen 18 Uhr schließt die Messe ihre Tore. In der Stadt laufen die Lesungen aber noch bis lange nach Mitternacht.
An diesem Abend interessieren wir uns für Krimi-Autoren aus Österreich. Sie lesen im Leipziger Landgericht.
Der Gerichtspräsident eröffnet die Veranstaltung. Selten säßen Menschen gerne dort, wo jetzt die Literaten Platz genommen haben, meint er.
Nach der Lesung ziehen wir noch mit dem sympathischsten der vier österreichischen Autoren los. Erst nach 22.30 Uhr erreichen wir die Wohnung unseres Gastgebers wieder.
Am Freitag (19. März) ist die Messe wesentlich voller als am Vortag. In manchen Hallen geht es nur sehr langsam voran. Bis Sonntag (21. März) wird die Messe mit 156.000 Gästen einen Zuwachs um 9.000 Besucher verzeichnen.
Dichtgedrängt wie die Menschenmassen in den Gängen ist auch unser Programm. Gegen Mittag besuchen wir eine Lesung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.
Auf dem Stand des ARD-Fernsehens stellt er sein neues Buch "Der Weg zur Einheit" vor. Dabei behandelt er die Vorgeschichte zur Wiedervereinigung vom Zweiten Weltkrieg an.
Näher heranzukommen ist an ihn nicht. Ohne die übliche Signier-Gelegenheit ist der 89-jährige Politiker nach dem letzten Satz und dem anschließenden Applaus sofort verschwunden.
An einem benachbarten Stand werden einige Zeit später "Die schönsten Bücher aus aller Welt" prämiert. Hier geht es um Grafik, Cover-Gestaltung, Layout, Typografie und die Qualität des verwendeten Papiers.
Erstaunt über die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten stoßen wir beim Empfang hinterher mit an. Dann begeben wir uns müde zur Presselounge, um dort vor der Fahrt zum nächsten Programmpunkt in der Innenstadt noch eine Kleinigkeit zu uns zu nehmen.
Am Freitagabend soll im MDR-Hochhaus am Augustusplatz die "Nacht der Hörbücher" stattfinden. Vier Stunden lang präsentiert der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) dabei aktuelle Hörbücher.
Vorher wollen wir uns noch etwas ausruhen und stärken. Als wir uns gerade an einem Tisch in der Lounge niederlassen wollen, setzt sich ein Paar auf die beiden anderen Plätze. "Die Marburger trifft man doch überall", begrüßt jemand mich fröhlich.
Der Journalist Wolfgang Brauer arbeitet für den Südwest-Rundfunk (SWR). Aufgewachsen ist er in Marburg, wo er immer noch eine Wohnung unterhält.
Ich kenne Wolfgang bereits seit 1992. Gelegentlich sind wir von Marburg aus gemeinsam zu Messen beispielsweise in Hannover gefahren.
Brauer ist aber beileibe nicht der einzige Marburger auf der Buchmesse. In Zwei-Stunden-Abstand tritt Lars Ruppel jeweils eine Viertelstunde lang mit Poetry Slam in der sogenannten "Textbox" auf.
Ihn werden wir wohl mal in Marburg besuchen. Die Hörbuchnacht wird für uns die letzte Veranstaltung der Buchmesse 2010. Auch hier benötigt man eine spezielle Akkreditierung, wenn man die Veranstaltung direkt im Saal verfolgen möchte. Wir kommen aber auch ohne hinein, nachdem wir einen Presseausweis vorgelegt haben.
Dieter Mann liest aus "Der große Kater" von Thomas Hürlimann. Günter Grass liest aus "Der Butt", den er gerade erst neu als Hörbuch aufgelesen hat. Zudem spricht er gemeinsam mit Kai Schlüter über die Akten, die die Staatssicherheit (StaSi) der ehemaligen DDR über ihn angelegt hat.
Wir sitzen an einem Tisch mit zwei weiteren Kollegen, die wir nicht kennen. Sprechen kann man angesichts der Radio-Aufzeichnung nicht miteinander. Aber es gibt Getränke und belegte Brötchen zu kaufen.
Der Journalist Axel Hacke erzählt von seinem "weißen Neger Wumbaba". Thema sind dabei Texte, die irgendjemand falsch verstanden hat.
Seine Beispiele wie "Schweinespuren im Sand" statt "Deine Spuren im Sand" aus einem Liedtext von Howard Carpendale sind umwerfend komisch. Vor allem aber seine Vortragskunst bringt den Saal zum Lachen, bis Tränen fließen.
In verschiedenen Radiosendern wird diese Veranstaltung live übertragen. Zwischen den Auftritten von Sprechern wie Anna Thalbach oder Autoren wie F. C. Delius spielt eine dreiköpfige Combo osteuropäische Musik.
In dieser Nacht kommen wir erst nach 1 Uhr ins Bett. Vom MDR aus sind wir noch mit zwei anderen Marburgern in eine Kneipe gegangen. Schließlich gibt es überall auf der Welt Marburger, die die Kultur hochhalten und mitunter auch die Bierkrüge.
Franz-Josef Hanke
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