15.01.2010 (chr)
Abschied und Neubeginn, Finden und Loslassen bestimmen die Schlüsselsituationen des menschlichen Daseins. Jeder neue Lebens-Abschnitt birgt Unsicherheiten.
Mit welchen Ängsten, Empfindungen und Gedanken dabei auch junge Menschen zu kämpfen
haben, beleuchtete am Donnerstag (14. Januar) eindrucksvoll die Schülertheater-Gruppe "NachtSicht" in ihrem neuen Stück "Und dann...?". Die Schüler der
Carl-Strehl-Schule (CSS)
zeigten im ausverkauften G-Werk eine farbige Szenen-Collage, in deren thematischem Bogen sich wohl jeder Zuschauer wiederfand.
Vier Mädchen mit Koffern stürmen auf die Bühne. "Wir sind gekommen, um uns zu verabschieden!", rufen sie euphorisch.
Schnell kommen andere hinzu, bis insgesamt zwölf Frauen und zwei Männer mit ihrem Gepäck zusammenstehen. In kurzen Schlaglichtern treffen die unterschiedlichsten Identitäten aufeinander. Allen fällt es gar nicht so leicht, loszulassen.
Da ist der überkorrekte Spießer, der nichts anderes kann, außer seinem toten Vater nachzueifern. Oder das ewige Kind, das sich mit Teddybär "Engelbert" in eine pseudo-elterliche Ersatzbeziehung flüchtet.
Die Abiturientin wiederum hat Angst vor dem Abschluss, weil sie dann alle liebgewonnenen
Sicherheiten verliert. Wie schwer es ist, "blind draufloszugehen" und seinen Platz in dieser
Welt zu finden, besingen alle in einem gemeinsamen Lied.
Welchen Beruf soll ich ergreifen? Was passiert, wenn mir meine Familie zuviel oder zuwenig Geborgenheit bietet?
Was hilft gegen Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper? Wie erlange ich Sicherheit in einer
Welt der Unsicherheiten und Aufbrüche?
In kurzen Dialogen versuchen die Protagonisten, für sich Antworten auf diese Fragen zu finden. Dabei geht es um nicht weniger als die Suche nach der eigenen Identität.
Dass diese Suche kein leichtes Unterfangen ist, stellten alle Schauspieler eindrucksvoll unter
Beweis. Da wurde geweint, gezweifelt, geschrieen und hysterisch gelacht.
Die größtenteils improvisierten Szenen wirkten dabei sehr lebensnah und tiefgründig. Gleichzeitig war die Spielfreude der Gruppe so groß, dass die schweren Themen erstaunlich leichtfüßig daherkamen. Das Publikum kam dadurch immer wieder ins Schmunzeln.
Eine ausgefeilte Choreographie unterstützte das Spiel. Alle tollten so perfekt aufeinander
abgestimmt über die Bühne, dass man keinem der Schüler seine Sehbehinderung anmerkte.
Auch musikalisch hatten die schülerischen Talente einiges zu bieten. In passenden Liedern
mit teils mehrstimmigem Gesang umrahmten sie die einzelnen Szenen.
Latoya Reitzner klang in ihrer Interpretation des Songs "I am beautiful" von Christina
Aguilera fast besser als das Original. Heiko Forro begleitete die Songs virtuos mal an der Gitarre, mal am Akkordeon.
Jeder Neuanfang birgt neben Risiken auch Chancen, lautete die ermutigende Botschaft am Ende des Stücks. Nicht nur für die vier Abiturienten, die die Gruppe bald verlassen müssen, sind die Szenen dadurch nah am Leben.
Alle Dialoge sind geprägt von eigenen Erlebnissen der Schüler. Das Stück lag ihnen so am Herzen, dass sie mit Regisseurin Karin Winkelsträter für die Proben sogar teilweise ihre Weihnachtsferien geopfert haben.
Dieses Engagement merkte man der Aufführung jederzeit an. Am Ende gab es dafür stürmischen Applaus.
Darüber hinaus ist "Und dann...?" auch für den Zuschauer eine vielfältige Möglichkeit, über
die eigene Existenz nachzudenken. Dazu lädt "NachtSicht" noch am Freitag (15. Januar) und
Samstag (16. Januar) ein.
Christian Haas
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