05.12.2009 (chr)
Wie hochaktuell Geschichte sein kann, erlebten etwa 20 Zuhörer beim
Politischen Salon am Freitag (4. Dezember) im Atelier der
Volkshochschule (VHS). Im Mittelpunkt des Abends standen die historischen Geschehnisse um den sogenannten "Weltbühne-Prozess" vor 80 Jahren.
Dazu hatte der Friedens- und Konfliktforscher PD Dr. Johannes M. Becker die Literaturwissenschaftlerin Dr. Anne-Maximiliane Jäger-Gogoll und den Juristen Kai von Drigalsky eingeladen. Beide haben sich in ihrer Arbeit mit dem Weltbühne-Prozess ausführlich beschäftigt.
Er ist beispielhaft für den juristischen Umgang mit der freien Meinungsäußerung in der Weimarer Republik. Gleichzeitig wirken seine Geschehnisse bis heute nach.
1929 wurden Carl von Ossietzky als Herausgeber der politischen Zeitschrift "Die Weltbühne" und der Journalist Walter Kreiser vor dem Reichsgericht wegen Landesverrats angeklagt. Dieser Anklage vorausgegangen war ein in der "Weltbühne" erschienener Artikel Kreisers.
Darin machte er die Beobachtung öffentlich, die Regierung habe Mittel für die zivile Luftfahrt in die geheime Wiederaufrüstung des Militärs – der sogenannten "Schwarzen Reichswehr" – abgezwackt. Damit verstieß sie sowohl gegen den Versailler Vertrag zur Beendigung des Ersten Weltkriegs als auch gegen die Verfassung der Weimarer Republik.
Obwohl sich der Autor "sehr vorsichtig" ausgedrückt habe, hätten die angeblich demokratischen Verantwortlichen sofort Anklage erhoben, erklärte von Drigalsky. Die entsprechenden Hintergründe dazu erläuterte Jäger-Gogoll.
Die erste deutsche Demokratie stand auch Ende der zwanziger Jahre noch auf schwierigem Boden. Militär und Justiz waren seit der Kaiserzeit nicht reformiert worden.
Dementsprechend herrschte in den verantwortlichen Köpfen immer noch der anti-demokratische Geist des ehemaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck vor. Diese Haltung der Gerichte führte etwa dazu, dass vor allem Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) freigesprochen wurden, obwohl sie offensichtlich anti-demokratische Haltungen vertraten.
Zeitschriften wie "Die Weltbühne" dagegen waren als Forum der radikaldemokratischen Linken sehr gefürchtet. Deshalb sei der "Weltbühne-Prozess" ein rein politischer Prozess gewesen, erläuterte Jäger-Gogoll.
Ossietzky sollte durch die Justiz unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Weg geräumt werden. Zusätzlich erhob der vierte Senat des Reichsgerichts deshalb die völlig haltlose Anklage der politischen Spionage.
Dass derlei juristische Willkür nicht der Vergangenheit angehört, erläuterte anschließend von Drigalsky der erstaunten Zuhörerschaft. Von Ossietzkys Tochter Rosalinde Ossietzky-Palm strengte 1990 ein Wiederaufnahme-Verfahren an, um ihren Vater nachträglich zu rehabilitieren und das Urteil von 1931 aufzuheben.
Doch selbst rund 70 Jahre danach lehnte der Bundesgerichtshof (BGH)dieses Gesuch am 3. Dezember 1992 ab. Die Begründung war dabei mehr als fadenscheinig.
Zu einem Wiederaufnahme-Verfahren benötige man neue Tatsachen. Das Gegenteil einer bekannten Tatsache sei hingegen keine neue Tatsache, zitierte von Drigalsky. Wie erwartet stieß diese Formulierung im Publikum auf Unverständnis.
"Wie ist eine solche Haltung heute noch möglich?", kam prompt die empörte Frage. Hauptgrund sei, dass in den BGH nach Gründung der Bundesrepublik viele alte Mitglieder des Reichsgerichts wieder eingegliedert worden seien, erläuterte von Drigalsky.
Dieser Besorgnis erregende Umstand bestimmte auch die anschließende Diskussion. Die Unabhängigkeit der heutigen Gerichte erschien dadurch offensichtlich in einem ganz anderen Licht.
Vor allem durch Drigalskys umfangreiches juristisches Insider-Wissen war dieser Politische Salon ein für alle Anwesenden interessanter und informativer Abend. Am Ende stand die Erkenntnis, dass die Vergangenheit immer noch lebendig ist. Das gilt selbst 80 Jahre danach immer noch.
Christian Haas
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