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Die entführte Frau


Krimi-Senkrechtstarter aus Dänemark

13.10.2009 (jnl)
Skandinavien kommt beim deutschen Literatur-Publikum enorm an. Rund hundert zahlende Besucher wollten am Montag (12. Oktober) im Technologie- und Tagungszentrum (TTZ) den neuen Star unter den Krimi-Autoren Dänemarks live erleben.
Sechs Romane hat der 59-Jährige bereits veröffentlicht. Doch in deutscher Sprache ist gerade erst eines herausgekommen. Diesen Thriller – auf Dänisch "Die Frau im Käfig", auf Deutsch "Erbarmen" betitelt - stellte Jussi Adler-Olsen nun in Marburg vor.
Moderator Dr. Bernd Kretschmer fragte den Schriftsteller nach Vorbildern und erntete entrüstetes Kopfschütteln. Als Krimi-Autor ahme er niemanden nach und lese auch nur selten Romane seiner Kollegen, betonte Adler-Olsen. Richtig sei allerdings, dass auch ihm von Verleger-Seite nahegelegt wurde, nach dem Erfolgsmuster der legendären Sjöwall-Wahllö-Krimis eine eigene Reihe zu lancieren. Auf gar keinen Fall habe er das gewollt.
Tatsächlich ist es ihm gelungen, mit einem beinah unglaublichen, witzigen Ermittler-Gespann zu überraschen. Carl Mørck ist ein wegen traumatischer Erlebnisse behinderter, aus dem normalen Polizeidienst frei gestellter Kripo-Komissar. Man hat in Anerkennung früherer Verdienste für ihn ein eigenes "Sonderdezernat Q" geschaffen, das die Aufklärung ungelöster Altfälle bearbeitet.
Ihm zur Seite steht Assad, ein junger syrischer Einwanderer, der eigentlich im Archivkeller des Polizeidezernats für Ordnung und Sauberkeit sorgen sollte. Aus diesem unwahrscheinlichen Gespann schlägt der Autor eine Menge Situationskomik und erfrischende Dialoge.
In "Erbarmen" nehmen die beiden sich den fünf Jahre alten Fall des Entführungsopfers Merete Lynggaard vor. Die 32-jährige erfolgreiche Berufspolitikerin ist unauffindbar geblieben, nachdem ihr Auto auf einer Fähre aufgefunden wurde. Alle Nachforschungen gingen ins Leere.
Die Politikerin ist entführt worden. Die Leser bekommen den Betonbunker und die Lebensumstände der Verschleppten hautnah in allen Facetten geschildert. Einmal pro Tag gibt es je einen Eimer mit Essen und Wasser und der Aborteimer wird getauscht.
Die nackten Wände, undurchsichtige Sichtluken, das notdürftige Schlaflager und die Schleuse sind alles, was dort vorhanden ist. Einzig an ihren Geburtstagen - also nur einmal im Jahr - spricht eine weibliche Lautsprecher-Stimme zu ihr.
In schneidendem Tonfall wird ihr mitgeteilt, sie könne ihre Lage nur durch eine "richtige" Antwort verbessern. Sie habe das Sphinx-Rätsel zu lösen, eine die Entführer zufriedenstellende Antwort zu geben, "warum" sie dorthin verschleppt und festgehalten werde. Sonst bleibt sie sich selbst überlassen.
Dies ist wahrhaftig ein höchst ungewöhnlicher, irritierender Plot. Statt des üblichen Lösegeld-Dramas oder eines brutalen Sexualdelikts hat Adler-Olsen eine kreatürliche, moralische Versuchsanordnung erfunden.
Ein Millionen-Publikum fand dieses kafkaeske Experiment hoch attraktiv. Die Auflösung des Thrillers wird hier selbstverständlich nicht verraten.
In den von Regina Leitner großartig modulierten Lese-Passagen kam sowohl die Dramatik der Gekidnappten wie die Komik der Ermittler zum Tragen. Während der Fragerunde des Publikums standen wiedereinmal die Motive des Schriftstellers für sein Schreiben im Zentrum. Die Antwort sei ganz einfach, merkte Adler-Olsen an. Er schreibe sich mit seinen Kriminalromanen den Frust über die Realitäten in Dänemark und der Welt von der Seele.
Mit seinem Ermittler-Duo erlaube er sich die größtmögliche Freiheit außerhalb der üblichen Polizisten-Limits. Mit pensionierten Polizisten spreche er gelegentlich. Und der soziale Hintergrund sei bei ihm das provinzielle, kleinstädtische Dänemark.
Zwei bis zwölf Monate Ideen-Verdichtung, dann zwei Monate Erarbeiten einer Orts- und Zeit-Synopsis und abschließend fünf Monate Fertigschreiben sei sein gewöhnliches Pensum.
Jussi Adler-Olsen machte auf der Bühne einen temperamentvollen, vitalen Eindruck. Sein Deutsch war ganz passabel. Ähnlich wie der Sizilianer Andrea Camilleri, überraschte er zudem immer wieder durch scharfsinnige Kulturkritik und trockenen Humor.
Jürgen Neitzel
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