24.09.2009 (fjh)
Fast wie beim berühmten Karneval in Rio ging es am Mittwoch (23. September) in der
Waggonhalle zu. Beim Konzert der brasilianischen Musikgruppe "Chorando à Toa" Hielt es fast niemanden auf dem Stuhl. Dichtgedrängt tanzte das Publikum dicht vor der Bühne zu den Rhythmen der Samba-Band.
Das Konzert war der Höhepunkt der 3. Marburger "Semana Latina". Diese Funktion erfüllte es sowohl durch die Stimmung, die die Waggonhalle in einen wahren Hexenkessel verwandelte, als auch wegen seiner sozialen, politischen und kulturellen Bedeutung.
Die Formation ist ein Ableger der Musikschule Rocinha. Alle sehs Musiker stammen aus dem Elendsviertel Rocinha in Rio de Janeiro. In der Musikschule haben sie alle ihre Instrumente und das Singen erlernt.
Vor dem Beginn des Konzerts berichtete Initiator Hans-Ulrich Koch kurz über die Geschichte des Projekts. Der Pianist und ehemalige Lehrer an der deutschen Schule in Rio wollte Straßenkindern aus dem Elend von Drogenkonsum, Prostitution und Bandenkriminalität heraushelfen. Deswegen investierte er sein Geld in den Aufbau der Musikschule in Rios berüchtigtester Favela.
Mit ungefähr 200.000 Einwohnern ist Rocinha zweieinhalbmal so groß wie Marburg. 400 Menschen haben inzwischen zur dortigen Musikschule und damit zumeist auch fort von dem Leben auf der Straße gefunden.
Nun möchte Koch diesen Erfolg nutzen, um die Musikschule nach 15 Jahren auch wirtschaftlich auf eigene Beine zu stellen. Deshalb hat er in Deutschland den Verein
Hoffnungsklänge gegründet.
Mit seiner organisatorischen Unterstützung und einer finanziellen Förderung durch das Goethe-Institut unternehmen die Musiker deswegen zur Zeit eine Konzert-Tournee durch Deutschland. Bei Auftritten in 27 Städten sammeln sie Spenden für ihr Projekt und die Finanzierung einer eigenen CD-Aufnahme.
Marburg war bereits ihre 17. Station. Doch von Ermüdung oder Routine war am Mittwochabend in der Waggonhalle nichts zu merken. Mit Feuereifer und voller Lebensfreude intonierten die sechs Brasilianer auf der Bühne ihre Stücke.
Dabei brachten sie beinahe das gesamte Repertoire brasilianischer Samba-Klassiker zu Gehör. Die recht zahlreich erschienene brasilianische Gemeinde Marburgs summte und sang schon bald fast alle Texte mit. Bei der musikalischen Beschreibung des Gangs eines schönen Mädchens am Strand von Ipanima ertönte das "Ah" aber auch aus zahlreichen deutschsprachigen Kehlen.
Vor allem der Rhythmus riss das Publikum mit. Schon beim zweiten Stück wagten sich einige Brasilianer auf die dicht vor der Bühne freigehaltene Tanzfläche. Spätestens nach dem vierten oder fünften Lied verwandelten sich dann alle im Saal in heißblütige und tanzlustige Brasilianer.
Ausgelöst haben diese Lebensfreude nicht nur die Rhythmen, sondern auch die professionelle und dabei zugleich doch spürbar von Herzen kommende Virtuosität aller sechs Musiker. Allen war deutlich anzumerken, dass die Musik für sie eine Lebensperspektive darstellt.
Sie alle arbeiten als Lehrer an der Musikschule. Zusammen mit ihren Auftritten können sie sich so von der Musik ernähren.
Vor allem die Sängerin Michele Castro beeindruckte durch Facettenreichtum und wandlungsfähigkeit. Mal hauchte sie einen Text nur leise mit sanfter Stimme ins Mikrofon, mal füllte die 26-jährige Sängerin mit einer durchdringenden Röhre den gesamten Saal.
Aber auch ihre fünf Kollegen überzeugten durch ihr Spiel und – zumeist auch – ebenso gekonnten Gesang. Nach fast zwei Stunden kamen sie alle von der Bühne herunter und spielten inmitten des Publikums weiter. Dabei spielten einige Musiker ihre Instrumente, während sie einzelnen Tänzerinnen oder Tänzern dabei direkt gegenübertraten.
Mehrere Zugaben stimmten sie dann aber doch noch einmal auf der #Bühne an. Am Ende verabschiedete Sängerin Michele jeden einzelnen Gast persönlich am Ausgang, wo sie zugleich Spenden für das – ansonsten kostenlose – Konzert und die Musikschule entgegennahm.
Eine dermaßen ausgelassene Stimmung wie an diesem Abend dürfte die Waggonhalle wahrscheinlich noch nie erlebt haben. Angesichts des fröhlichen Gedränges auf der Tanzfläche und der mitreißenden Rhythmen konnte man am Mittwochabend eine Vorstellung davon gewinnen, wie Karneval in Rio wohl sein mag. Diesen Musikern und ihrem wunderbaren Projekt wünscht man nach diesem Konzert nur möglichst viele weitere Auftritte vor – dann wohl zwangsläufig - gutgelaunten und spendablen Gästen.
Franz-Josef Hanke
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