09.08.2009 (fjh)
Kaum kommt die Sonne auch nur ein wenig heraus, da stehen Marburgs Gehsteige voll mit allerlei Mobiliar.Sonnenschirme schützen Kneipenbesucher vor allzu starker Strahlung, aber auch vor Regen. Ansonsten pulsiert das Leben unter freiem Himmel.
"Stadtväter" freuen sich fast immer darüber. Doch für Blinde sind Tische und stühle auf dem Gehweg ein ärgerliches Hindernis.
Denn was für Nichtbehinderte der Himmel ist oder zumindest ein Schritt in seine Richtung, das ist für Blinde der größte abzulehnende Stress beim nächsten Schritt in die gewünschte Richtung. Mitten auf dem Gehweg stehen ihnen plötzlich irgendwelche Gegenstände im Weg, denen sie ausweichen müssen.
Normalerweise halten sich Blinde an sogenannte "Leitlinien": Sie gehen – getreu dem Refrain eines Couplets der 20er Jahre – "immer an der Wand lang" oder verfolgen mit Hilfe ihres weißen Langstocks den Verlauf der Bordsteinkante. Vor allem die Kante bietet dabei aber viele Probleme, wenngleich auch die Hauswand ein nicht völlig unproblematischer Wegweiser ist.
An Wänden hängen Automaten oder Markisen, die der Stock nicht aufspüren kann. Er pendelt bis zur Bauchhöhe auf dem Boden hin und her, wobei sein Benutzer nur Hindernisse im unteren Bereich ertasten kann.
Vor vielen Geschäften stehen Werbeständer oder Auslagen mit Ware. Sie stören Blinde ebenfalls, wenn sie an der Wand entlanglaufen. Auch hervorstehende Stufen vor Haustüren können Blinde zum Stolpern bringen.
Dennoch sind die Fluchten der Hauswände für Stockgänger die ideale Orientierungs-Linie. Denn einfach geradeaus gehen können sie nicht ohne solch eine Hilfe.
Sehende fixieren einen Punkt in der Entfernung mit den Augen und gehen zielstrebig darauf zu. Blinde können nur einigermaßen "geradeaus" gehen, wenn sie sich nicht an Leitlinien halten.
Ist die Hauswand versperrt, dann bietet die Bordsteinkante notfalls auchdiese Hilfe an. Doch sie ist oft mit Parkuhren und Verkehrsschildern bestanden, die ein problemloses Daran-Entlang-Laufen mit dem Stock verhindern.
In der umgebauten Ketzerbach sind die Tische und Stühle vor den Gaststätten das größte Problem. Weder die Bordsteinkante, noch die Hauswand kann Blinden hier als Leitlinie dienen. Es gibt für sie in dier missgestalteeten Straße einfach keine leichte Orientierung.
Vor dem Umbau war das noch anders. Da gab es hier fast keine Hindernisse, weil der Gehsteig schmaler war.
Seit der "erfolgreichen" Umgestaltung der Straße stolpern Blinde nun über diese Steinwüste entweder der Elisabethkirche am östlichen Ende der Ketzberbach oder der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) an ihrem westlichen Ende entgegen. Da die BliStA 260 blinde Schülerinnen und Schüler beherbergt, sind viele Stockgänger in der Ketzerbach unterwegs.
Dennoch hat die Stadt auf sie bei ihrer Ugeestaltung keine Rücksicht genommen. Bau-Stadtrat Dr. Franz Kahle ehauptet, Blinde hätten diese Planung abgesegnet.
Mag sein, dass irgendein Blinder diesen Plan akzeptiert hat, nachdem irgendein Sehender ihn imhm "erklärt" hat. An der Rücksichtslosigkeit der Verantwortlichen gegenüber Bhinderten ändert das nichts.
Blinde benötigen Leitlinien, die sie mit dem Stock verfolgen können und an denen sie gefahrlos mit geringem Abstand entlanglaufen können. Solche Leitlinien müssen in jeder Planung berücksichtigt werden!
Wenn der erste Blinde irgendwann mit dem Kopf gegen eine Markise oder gegen einen Sonnenschirm stößt und sich dabei verletzt, wogegen ihn der Stock nicht schützen kann, dann tragen die sogenannten "Stadtväter" dafür die Verantwortung. Ihre menschenverachtende Fehlplanung, bei der alte Bäume umgehauen und durch junge Bäumchen so nahe an den Häusern ersetzt wurden, dass deren Abholzung in wenigen Jahrzehnten schon vorprogrammiert ist, achtet nicht auf die natürlichen menschlichen Bedürfnisse. Sie ist versteinerte Rücksichtslosigkeit.
Franz-Josef Hanke
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