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Bedingungsloses Grundeinkommen


Götz Werner stellte sein Konzept vor

28.02.2008 (jnl)
Ob ein "Weiter so" zukunftsfähig ist, das fragen sich viele Menschen. Rund 250 Leute kamen daher am Mittwoch (27. Februar) in die Waggonhalle, um von dem Anthroposophen Götz Werner sein visionäres Konzept vorgestellt zu bekommen. Der Saal war brechend voll, alle Altersgruppen waren vertreten.
Als erfolgreicher Unternehmer und Professor zeigte sich der 64-Jährige dem großen Publikum locker gewachsen. Souverän stieg er in gut verständlicher Sprache ohne sperrige Abstraktionsbegriffe und mit vielen Beispielen in sein Thema ein. Mit dem "Bedingungslosen Grundeinkommen" für alle schlägt er einen grundlegenden Richtungswechsel in der Staats- und Ökonomie-Ausrichtung vor.
Da die Produktivitätssteigerungen der Wirtschaft die bezahlten Arbeitsstellen zunehmend überflüssig machen, sagte er, müsse völlig umgesteuert werden. Da es herkömmliche Erwerbsarbeitsplätze für einen großen Teil der westlichen Gesellschaften nicht mehr geben werde, müssten viele Menschen auf "Kulturarbeit" umstellen. Darunter versteht er Bildungsarbeit, Kunst oder Familien- und Erziehungsarbeit, Sozialarbeit, damit die Gesellschaft qualitativ wachsen kann und zusammengehalten bleibt.
Schon gegenwärtig betätigten sich 22 Millionen Deutsche im unbezahlten, gemeinnützigen Ehrenamt. Ehrenamtliche Tätigkeit müsse man sich aber nicht nur zutrauen, sondern vor allem auch leisten können.
Nur wer durch ein auskömmliches Grundeinkommen frei in seinen Entscheidungen sei, könne sich sein Arbeitsfeld tatsächlich selbstbestimmt aussuchen. Er berief sich auf Jean-Jacques Rousseaus Freiheitsbegriff. Demnach ist Freiheit, "nicht tun zu müssen, was man soll". Die nicht nur theoretische sondern praktische Möglichkeit, jederzeit Nein sagen zu können, ohne bedrohliche Konsequenzen fürchten zu müssen, das ist das Kriterium.
Die heute in Deutschland installierte Sozialbürokratie ebenso wie die sogenannte Arbeitswelt funktioniert hingegen genau entgegengesetzt. Die Menschen werden bedroht mit Arbeitsstellenverlust, Verarmung, Entmündigung und Demütigungen. Diesen menschenverachtenden Strukturen möchte der Entrepreneur Werner ein menschenfreundliches Gesellschaftskonzept entgegensetzen.
Ausgangspunkt ist für Werner ein Menschenbild, das eher von Vertrauen als von Misstrauen in die Menschen lebt. Viele dächten, sie selber würden trotz Grundeinkommen weiter arbeiten und Nützliches leisten, aber die meisten Anderen würden das nicht tun. Statt als ein determistisches Reiz-Reaktions-Wesen definiert Götz Werner den Menschen lieber als "ein entwicklungsoffenes, auf Selbstentfaltung angelegtes Lebewesen".
"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" lautet ein bekannter Spruch Lenins. Sind die Deutschen etwa mehrheitlich Leninisten, fragte Werner ironisch: "Vertrauen für sich selber, Misstrauen und Kontrolle für die Anderen"? Mit so einem Konzept könne man heutzutage nicht erfolgreich ein Unternehmen führen. Und auch im Staat ginge ein solches Initiative unterdrückendes Handlungskonzept auf Dauer schief.
Der nachprüfbare Sachverhalt, dass der Drogerie-Unternehmer in seinen europaweit fast 2000 Filialen seine 25.000 Mitarbeiter tatsächlich vorbildlich und partnerschaftlich behandelt, verleiht seinem Argument Glaubwürdigkeit. "Zutrauen veredelt die Menschen", zitierte Werner Karl Freiherr vom Stein.
"Der Erwerbsarbeitsbegriff ist ein schlimmes Paradigma", konstatierte Werner. Das Beispiel Nokia Bochum und hunderte weitere Stellenabbaupläne zeigten doch zu Genüge, dass auch Millionen Euro Subventionen in Jobs nichts erreichten. Die Rahmenbedingungen zu Zeiten der Globalisisierung erforderten vollständig neues Denken und Handeln.
Das gegenwärtig geltende Steuersystem verteuere unsinnig die menschliche Arbeit und begünstige den Einsatz von Maschinen. Wenn man von der Besteuerung der Arbeit abgehe und fortan ausschließlich den Konsum mittels einer hohen Mehrwertsteuer für die Staatsausgaben heranziehe, versprach Werner, ginge es allen besser. Die Ökonomie würde aufblühen und die heute viel beklagten sozialen Fehlentwicklungen würden korrigierbar.
Eine gängige Selbsttäuschung ist es laut Werner, anzunehmen man lebe von seinem eigenen Einkommen. In Wirklichkeit lebten alle beständig von den Arbeitsleistungen der vielen, ungezählten Anderen. Niemand außer ein paar Biobauern vielleicht könne sich selbst versorgen. Nur das Funktionieren des Gesellschaftssystems ermögliche unter den heutigen Rahmenbedingungen das Leben und Überleben. Funktionieren könne es aber nur so lange, wie die meisten Menschen Vertrauen darein setzten. Und dieses Vertrauen sei in den letzten Jahrzehnten auf dem Rückzug und im Schwinden.
Nur durch Reintegration der Menschen durch verstärkte "Kulturarbeit" und gelebte Teilhabe aller an der Gesellschaft könnte ein Umschwung einsetzen. Das "Bedingungslose Grundeinkommen" böte dafür eine gangbare Basis.
"Revolutionär denken - evolutionär umsetzen", formulierte der Antroposoph und Rudersportler seinen politischen Ansatz. Die eingefleischten Begriffe der "Arbeitsgesellschaft" über Bord zu werfen und ganz neu nachzudenken, überfordere viele Zeitgenossen zunächst einmal. "Tun Sie sich keinen Zwang an", riet Werner, "das braucht Zeit". Er wolle "das soziale Klima wandeln vom Sollen zum Wollen" und damit der Gesellschaft insgesamt Auftrieb schenken.
In der Fragerunde kamen ein paar Gegenargumente. Warum man Gutverdienern ein Grundeinkommen zahlen solle, das sie nicht bräuchten, wurde gefragt. Lächelnd verwies Werner auf Kindergeld und Steuerfreibeträge, die doch genau dem heute schon entsprächen.
Warum er davon ausgehe, dass sein Mehrwertsteuer-System keine hohen Preissteigerungen zur Folge hätte, wurde moniert. Die Leistungsfähigkeit der Ökonomie erlaube das ohne Weiteres, antwortete der Drogerie-Unternehmer und verwies auf die deutsche Wiedervereinigung. Der Beitritt von 17 Millionen Ostdeutschen zur DM habe 1990 schließlich auch ohne große Inflation stattgefunden. Und alle heutigen Steuern und Sozialabgaben seien in den Preisen von heute schließlich enthalten und eingerechnet. Wenn diese 50 Prozent Staatsquote gemäß seinem Konzept wegfalle, würde es halt durch Mehrwertsteuer in etwa gleicher Höhe ersetzt.
"Wenn man etwas wirklich will, findet man auch Wege dahin", bekannte Werner sein Credo, " wer aber etwas partout nicht wolle, der findet sich dann Gründe."
Nach einem sehr inhaltsvollen und gedanklich anregenden Vortragsabend beendete der Visionär einfühlsam die Diskussion, bevor sie der geduldig und aufmerksam ausharrenden Publikumsmehrheit auf die Nerven zu gehen drohte, schon nach acht Fragern. Die Ausstrahlung der Persönlichkeit Götz Werners und die Atmosphäre im Saal war bis zuletzt freundlich und bei allen Meinungs-Kontroversen ungewöhnlich entspannt.
Jürgen Neitzel
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