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Furcht vor Politikwechsel


Jutta Roitsch referierte im DGB-Büro Marburg

10.12.2008 (fjh)
"Die Furcht vor dem Politikwechsel" hatte Jutta Roitsch ihren Vortrag über den Umgang der Medien mit Andrea Ypsilanti und der Linken genannt. Auf Einladung der Humanistischen Union (HU), des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und des Zentrums für Konfliktforschung (ZfK) der Philipps-Universität referierte die ehemalige Redakteurin der Frankfurter Rundschau (FR) am Dienstag (9. Dezember) vor fast 50 Gästen im überfüllten Versammlungsraum des Marburger Gewerkschaftshauses.
Zunächst unternahm die Referentin einen feuilletonistischen Rückblick. Sie beschrieb ihr erstes Zusammentreffen mit Ypsilanti zu einer Zeit, als die SPD-Politikerin noch weithin unbekannt war. Damals sei sie geradezu bedrängt worden, als glaubwürdige und sozial engagierte Gegenkandidatin gegen den hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch anzutreten. Es habe eine Weile gedauert, bis sie sich zu dieser Kandidatur bereitfand.
Anschließend rief Roitsch die Ereignisse kurz vor und nach der Landtagswahl in Hessen am Sonntag (27. Januar) in Erinnerung. Im Vorfeld habe die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ebenso wie Ypsilanti selbst bekundet, sie wollle in keiner Form mit der Linken zusammengehen. Nach der Wahl sei diese Aussage dann zum Bumerang für Ypsilanti geworden.
Einen wichtigen Schwachpunkt der SPD-Strategie in Hessen stellte Roitsch in ihrer Analyse heraus: Ypsilanti habe einen Politikwechsel vollziehen wollen, ohne dabei die Mehrheit der Bevölkerung mitzunehmen. Diese Politik habe scheitern müssen.
Gleich nach der Wahl habe Ypsilanti den Anspruch erhoben, Hessen zu regieren. Dabei habe sie alle Zeit der Welt gehabt, Koch an einer Regierungsbildung erst einmal grandios scheitern zu lassen.
Zu spät habe sie diesen Fehler erkannt und zu korrigieren versucht. Im zweiten Anlauf habe Ypsilanti dann versucht, zumindest innerparteilich eine groß angelegte Debatte zu führen.
Ein echter Politikwechsel ist nach Roitschs Überzeugung nur möglich, wenn er durch gesamtgesellschaftliche Debatten vorbereitet und begleitet wird. Das belege nun auch die Erfahrung nach der Hessen-Wahl.
Ernst zu nehmende Gegner der angekündigten Richtungsänderung wie die Energie-Konzerne, die Frankfurter Flughafen-Gesellschaft "Fraport" und andere habe die hessische SPD vermutlich unterschätzt. Ebensowenig habe sie wohl die Ausrichtung der Medien-Mehrheit einkalkuliert.
"Die Landeskorrespondenten glucken in Wiesbaden zusammen", berichtete Roitsch von ihren jahrzehntelangen Erfahrungen mit der hessischen Landes-Pressekonferenz. Oft entstünden dabei gemeinsame Einschätzungen und sogar Formulierungen, die dann von allen verbreitet würden.
In den meisten Redaktionen gebe es indes die stillschweigende Übereinkunft, im Zweifel den Korrespondenten vor Ort zu folgen, "denn die sind näher dran".
Mit den Wiesbadener Korrespondenten sei Ypsilanti nicht ein einziges Mal ein Bier trinken gegangen. Dagegen habe ihr innerparteilicher Widersacher Jürgen Walter ein gutes Verhältnis zu ihnen gepflegt. Sie alle seien daher in dem innerparteilichen Streit auf seiner Seite gewesen, berichtete Roitsch.
Auch der Fakt, dass die SPD-Spitzenkandidatin eine Frau ist, habe bei der Berichterstattung sicherlich eine Rolle gespielt. Männern sei wahrscheinlich nicht die Frage gestellt worden: "Sind Sie machtgeil?"
Männern habe bestimmt auch niemand so übel mitgespielt wie die "Bunde" der ehemaligen Stewardess, die man in einem roten Kleid fotografiert und dann mit Julia Roberts im gleichen Flitter online zur Abstimmung gestellt habe. Frauen in politischen Spitzenpositionen seien trotz einiger weniger positiver Beispiele in Deutschland immer noch nichts Normales.
Dennoch dürfe man diesen Gesichtspunkt nicht überschätzen. Wesentlich für Ypsilantis Scheitern sei eine Ausrichtung der meisten Journalistinnen und Journalisten auf ein eher konservatives Verständnis von Politik.
Dafür machte die langjährige FR-Redakteurin vor allem die Akademisierung des Journalisten-Berufs verantwortlich, die zu einer immer größeren Entfernung der Kollegen von der Alltagswirklichkeit "einfacher Leute" führe. Ihr persönliches Umfeld bestehe vorwiegend aus Akademikern und gut situierten Menschen.
Nur wenige wie Franziska Augstein, Heribert Prantel und Hans Leyendecker bemühten sich nach wie vor, die Fahne des aufrechten Journalismus und der Sozialen Gerechtigkeit hochzuhaltnen. Sie seien jedoch inzwischen nur noch einsame Rufer in der Wüste. Solide Recherche und fundierte Hintergrund-Berichterstattung fielen fast überall dem verstärkten Streben nach Auflage und Quote zum Opfer.
Dieser Entwicklung sei letztlich auch die hessische SPD zum Opfer gefallen. Die vier "Abweichler" hätten leicht die Aufmerksamkeit aller Medien gefunden. Ypsilantis Streben nach einem Politikwechsel hingegen sei auf die geschlossene Phalanx eher konservativer Medienmacher und einer mit ihnen verbrüderten politischen Nomenklatur gestoßen.
Viele Zuhörer ergänzten diese Darstellung am Dienstagabend durch eigene Anmerkungen. Nur ein einziger Diskutant verteidigte dabei vehement die Ypsilanti-Kritik. Alle anderen hingegen kritisierten die SPD und die Medien eher noch schärfer als Roitsch.
Scharf verurteilte sie wiederum die Linkspartei und deren Vorsitzenden Oskar LaFontaine. Er sei zwar ein alter Freund von ihr, doch sehe sie in ihm einen gnadenlosen Populisten. Trotz aller Widrigkeiten sei sie nach wie vor Mitglied der SPD. Dafür werde sie sich auch vor niemandem rechtfertigen.
Nach knapp zwei Stunden spannenden Meinungsaustauscchs musste die Referentin zum Zug. Zweifellos war zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles ausdiskutiert, doch handelte es sich bei Roitschs Vortrag und der anschließenden Diskussion trotzdem um eine sehr gelungene Veranstaltung.
Franz-Josef Hanke
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