18.12.2016 (fjh)
"Keiner weiß Bescheid, aber alle machen mit." Unter diesem Titel trug der Leuchtfeuer-Preisträger Lutz Götzfried am Samstag (17. Dezember) im
Spiegelslustturm Geschichten und Lieder über seine Arbeit mit psychisch kranken Menschen vor. Unterstützt wurde er dabei von Jochen Schäfer am Klavier.
Meist handelte es sich bei den vorgelesenen Texten um heitere Anekdoten über die Arbeit der Bürgerinitiative für Sozialpsychiatrie und ihr Übergangswohnheim am Sauersgäßchen. Jahrelang war Götzfried Leiter dieser inzwischen aufgelösten Einrichtung.
Seine Texte berichteten von überforderten Sozialarbeitern bei Ausflügen der Wohngruppe nach Frankreich oder den Stress mit einer verlorengegangenen Mitreisenden bei einem Besuch des Weihnachtsmarkts in Frankfurt. Pikant war das Erlebnis mit einem Arzt, der den langhaarigen Sozialarbeiter für den Patienten hielt und nicht den geschniegelten schizophrenen Mann im Nadelstreifen-Anzug.
Auch tiefsinniger und weniger heiter wurde es zwischenzeitlich. Allerdings beging Götzfried dann den schwerwiegenden Fehler, das Publikum unmittelbar nach zwei sehr depressiven Geschichten ohne heitere Dreingabe in die Pause zu entlassen. Das veranlasste zart besaitete Gemüter zu der Bemerkung, derartige Texte seien nicht angemessen, was durch eine erheiternde Auflösung unmittelbar danach sicherlich nicht der Fall gewesen wäre.
Mitunter hatte Götzfried Mühe, die Texte vorzulesen. Oft kommentierte er die Geschichten ein wenig zu ausführlich. Insgesamt eröffneten sie aber einen meist vergnüglichen Einblick in die Arbeit mit Menschen, die aus der Gesellschaft hinausgedrängt werden.
Besonders gelungen waren Schäfers am Klavier improvisierte Überleitungen und die Lieder, die er und Götzfried gemeinsam vortrugen. vor allem ein Blues eines Bewohners der Übergangseinrichtung vereinte eine harsche Kritik an der Medikamententherapie als Allheilmittel für psychische Erkrankungen mit vernichtendem Humor und beschwingtem Rhythmus.
Nach fast drei Stunden endete der Abend noch einmal mit einem musikalischen Highlight und dem Dank von Betroffenen an Götzfried. Einige der Texte stammten von ihm, andere aber auch von Menschen aus seiner Wohngruppe, die teilweise auch zur Aufführung ins Turm-Café gekommen waren. Insgesamt war die Lesung mit musikalischen Einlagen ein gelungenes Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Sensibilität auch gegenüber Menschen, die angeblich nicht "normal" sind.
Franz-Josef Hanke
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