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Verschwiegen


Conze stellte Studie vor zu Nazis im Magistrat

23.11.2016 (fjh)
"Mit 30,6 Prozent lag der Anteil belasteter Personen in der Marburger Stadtverordnetenversammlung nach 1945 deutlich höher als in allen anderen bislang untersuchten Parlamenten", stellte Prof. Dr. Eckart Conze am Dienstag (22. November) bei der Präsentation einer neuen Studie fest. "Die kommunale Selbstverwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus sowie die NS-Belastung Marburger Magistratsmitglieder und Stadtverordneter hat der renommierte Historiker vom Institut für Neuere Geschichte der Philipps-Universität im Auftrag der Universitätsstadt Marburg gemeinsam mit Alexander Cramer, Sarah Wilder und Dirk Stolper untersucht. Im vollbesetzten Stadtverordnetensitzungssaal stellten die Autoren die Ergebnisse zweier Studien zur Zeit des Nationalsozialismus einerseits und der Belastung städtischer Gremien nach 1945 andererseits vor.
Auf 550 Seiten haben sie ihre Ergebnisse niedergelegt. Sie sollen demnächst auch in allgemein verständlicher Form als "Marbburger Stadtschrift" erscheinen.
Bemerkenswert ist nach Einschätzung der Autoren, dass vor allem CDU und SPD nach 1946 mehr belastete Kommunalpolitiker in ihren Stadverordnetenfraktionen hatten als im Hessischen Landtag oder anderen Landesparlamenten. Einschränkend fügte Conze hinzu, dass bislang überwiegend Länderparlamente auf ihre Nazi-Belastung hin untersucht wurden.
Am höchsten war der Anteil belasteter Stadtverordneter in Marburg in der Wahlperiode von 1960 bis 1964 mit 35 Prozent. Ende der 70er Jahre gab es schließlich keine belasteten Parlamentsmitglieder mehr.
Bereits vor der Nazi-Diktatur gab es in Marburg starke faschistische Strömungen. So feierte Adolf Hitler am 20. April 1932 seinen 43. Geburtstag unter großer Anteilnahme seiner Anhänger in Marburg.
1933 errang die Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei (NSdAP) 30 der 50 Mandate in der Stadtverordnetenversammlung (StVV). Wegen der Inhaftierung ihres einzzigen Stadtverordneten konnte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ihr Mandat nicht mehr wahrnehmen. Aus Protest boykottierte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) die erste Parlamentssitzung, wonach sie keine Einladung mehr erhielt.
ramer berichtete von der relativ raschen Auflösung der demokratischen Strukturen in Marburg nach 1933. An die Stelle der kommunalen Selbstverwaltung trat gemäß dem "Führer-Prinzip" ein linientreuer Oberbürgermeister, dem ein Bürgermeister als Stellvertreter und weitere Magistratsmitglieder als Berater zur Seite standen.
Nachdem er für die Weigerung verantwortlich gemacht worden war, die Hakenkreuzflagge zu hissen, wurde Oberbürgermeister Johannes Müller 1933 aus dem Amt gedrängt. 1934 wurde Ernst Scheller als Oberbürgermeister eingesetzt. Scheller war der NSdAP bereits 1931 beigetreten.
Zwischen Müllers erzwungenem Rücktritt und Schellers Amtsantritt nahm Bürgermeister Walter Voss die Amtsgeschäfte des Oberbürgermeisters wahr. Nach Schellers Einzug zur Wehrmacht und seinem Tod 1941 an der Ostfront wurde Voss 1942 zum Kommissarischen Oberbürgermeister ernannt. Die kampflose Übergabe Marburgs an die US-amerikanischen Truppen am 29. März 1945 wurde Voss zugeschrieben, weshalb er nach Kriegsende als "Retter von Marburg" sogar mit der Benennung einer Straße geehrt wurde.
Erster frei gewählter Oberbürgermeister nach Kriegsende wurde 1946 der Liberale Karl Theodor Bleek. Vor seiner Wahl hatte er der Entnazifizierungs-Spruchkammer seine NSdAP-Mitgliedschaft verschwiegen, weshalb seine vorherige Entlassung aus dem Amt eines Landrats zu seiner Einstufung als "unbelastet" führte. Dank dieser Verheimlichung konnte Bleek später Fraktionsvorsitzender der FDP im Hessischen Landtag, Staatssekretär im Innenministerium und 1957 sogar Leiter des Bundespräsidialamts werden.
Sein Lebenslauf zeige, dass eine Person zugleich Opfer und Täter gewesen sein könne, erklärte Conze. Auf die Frage, ob die Stadt den Theodor-Bleek-Steg umbenennen solle, antwortete er, dass ein "kritisches Gedenken" besser sei als ein "Auslöschen der Erinnerung".
Mehrere weitere Personen wurden während der gut zweistündigen Veranstaltung genannt. Teilweise übten sie Funktionen in der Geheimen Staatspolizei (GeStaPo) und der Waffen-SS bis hin zum Rang eines Standartenführers, die Funktion eines Marinerichters mit selbst zugegebenen sechs Todesurteilen oder die eines Brigadeführers und späteren Landesführers der SA aus.
Am Ende der Diskussion stand die Feststellung, dass die von Cramer, Wilder und Stolper vorgelegten Studien noch viele offene Fragen aufwerfen. Weitere Untersuchungen seien also nötig, konstatierte Conze zum Abschluss.
Franz-Josef Hanke
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