11.06.2016 (fjh)
"Flugzeuge im Bauch und im Blut Kerosin: So sind wir von Air Berlin." Diesen Refrain zitierte Thomas Ebermann am Freitag (10. Juni) bei einer Musiklesung im Kulturladen KFZ. Im Rahmen der Veranstaltung "Campus Marburg" stellte der Hamburger Gesellschaftskritiker und Satiriker dort am Freitagabend gemeinsam mit dem Musiker Kristof Schreuf "Firmenhymnen" vor und unterzog sie einer kritischen Analyse.
Mehr als 1.000 mittelständische und Großunternehmen in Deutschland besitzen dergleichen. Beim Antritt einer Stelle beim Wolfsburger Automobilhersteller Volkswagen erhalte man am ersten Arbeitstag nur die Schlüssel und eine CD mit der Firmenhymne, berichtete Ebermann. Dann ließ er diese Hymne als Video vorspielen. Ihr Text, indem sich VW selber als Garant deutscher Wertarbeit feiert, ist nach dem Abgas-Skandal selbst bereits eine gelungene Satire.
Nichts habe er an den Texten der vorgetragenen Firmenhymnen verändert, erklärte Ebermann. Aufgenommen haben die Videos mit den Liedern eigens für ihn bekannte Hamburger Musiker wie Bernadette La Hengst, Lisa Politt, Thomas Pigor, Dirk von Lowtzow von der Band "Tocotronic", Gustav Peter Wöhler und Schorch Kamerun von den "Goldenen Zitronen".
Die Hymne von "Kaiser"s Tengelmann" beteuert, in diesem Betrieb sei jeder wichtig. Das Original hatte der Konzern mit 4.000 Kassiererinnen aufgenommen. Nach der - von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel kürzlich genehmigten - Fusion mit EdeKa sollen nun aber Tausende dieser "wichtigen" Mitarbeiterinnen ihren Job verlieren.
In den Firmenhymnen kristallisiere sich die "apitalistische Sichtweise auf Menschen als "Humankapital", erläuterte Ebermann. Solche Lieder übten einen psychologischen Anpassungsdruck aus. Zudem besäßen Lieder häufig die Funktion, unangenehme Zustände erträglicher zu machen.
Inzwischen habe eine weitere Verschärfung eingesetzt: Immer mehr Menschen verstünden sich selbst als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft, deren Verwertbarkeit ihr oberstees Anliegen sei. Diesem Ziel opferten sie Freizeit, indem sie ihren Körper trainierten und dadurch arbeitsfähig erhielten; an diesem Ziel richteten sie aber auch ihre Beziehungen aus, die nicht mehr auf Liebe oder Freundschaft gründeten, sondern auf gegenseitigen Nutzen.
Anhand eines besonderen Beispiels zeigte Ebermann die Perfidie derartiger Firmenhymnen auf: Als Liebeslied kam der Song daher, der einer Idee huldigte. Nichts werde dank dieser Idee "uns zwei" auseinanderbringen.
Erst in der allerletzten Zeile nannte der Liedtext den Namen des Urhebers dieser Idee: Es handelt sich um die Firma "3M". Das Unternehmen stellt Klebeband her.
Mit viel Selbstironie karikierte Ebermann kurz vor Schluss auch die Hymnen der Alternativbewegung. Während Schreuf zu eigener Gitarrenbegleitung "Wehrt Euch, leistet Widerstand" oder "We schall overcome" sang, fiel Ebermann ihm ins Wort und gab zu, diese Lieder selbst auch gesunden zu haben. "The House of rising Sun" spielte Schreuf trotz Ebermanns Aufforderungen "genug" oder "Ende!" genüsslich bis ganz zum Schluss.
Der gesellschaftskritische und zugleich unterhaltsame Abend endete pünktlich um 21.03 Uhr, als im Erwin-Piscator-Haus (EPH) die nächste Veranstaltung begann. Zurück blieb die Frage, wie viel Gehirnwäsche die Wirtschaft den Menschen noch angedeihen lassen wird, damit ihre Profite weiterhin kräftig gedeihen.
Franz-Josef Hanke
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