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Früchte des Fremdenhasses


Beeindruckende Bühnenfassung nach John Steinbeck

16.01.2016 (fjh)
Fremde sind hier nicht willkommen. Diese Erfahrung müssen Menschen machen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und geflüchtet sind. Die Einheimischen betrachten sie mit Misstrauen und enthalten ihnen gar den gerechten Lohn vor, so dass sie nicht einmal das Lebensnotwendigste verdienen können.
Derartige Erlebnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) schilderte der Literaturnobelpreisträger John Steinbeck 1939 in seinem preisgekrönten Roman "Früchte des Zorns". Eine aktuell aufbereitete Inszenierung der Bühnenfassung von Frank Galati feierte am Freitag (15. Januar) Premiere in der Galeria Classica. Markus Heinzelmann hat sie für das Hessische Landestheater Marburg absolut gekonnt auf die Bühne gebracht.
Tom Joad (Roman Pertl) kommt aus dem Knast nach Hause. Auf Bewährung wurde er vorzeitig entlassen. Er hatte einen gewalttätigen Mann in seine Schranken verwiesen und dabei umgebracht.
Doch bei seiner Rückkehr packt die Familie gerade ihre Sachen. Die Grundbesitzer vertreiben die Pächter vom angestammten Land und fahren ihre Hütten mit Traktoren zu Klump.
So machen sich in Oklahoma Hunderttausende auf nach California. Ein Flugblatt verheißt dort Arbeit für alle und paradiesische Lebensbedingungen.
Nur der Großvater (Thomas Streibig) will sein Land nicht verlassen. Als die anderen ihn zu überreden versuchen, weigert er sich.
Kurz nach dem erzwungenen Aufbruch ins Ungewisse stirbt er. Heimlich verscharrt seine Familie ihn im Boden, weil eine standesgemäße Beerdigung ihre gesamten Ersparnisse verschlingen würde.
Weiter ziehen die Joads auf dem Weg nach Westen. Auch der ehemalige Reverend James Casy (Stefan Piskorz) schließt sich der Familie an. Er glaubt nicht mehr an Gott und mag nicht mehr predigen.
Wo immer aber die Familie ankommt, wird sie mit Feindseligkeit und Argwohn empfangen. Übernachtungen in Zelten oder sogar auf freiem Feld sollen horrende Summen kosten. Arbeiten werden nur ganz gering entlohnt.
Verzweifelt ziehen alle immer weiter nach Westen, wo sie sich endlich Besserung erhoffen. Auch die Warnung eines entgegenkommenden Mannes, dort sei alles noch schlimmer, hält die Familie nicht von ihrem Vorhaben ab.
Rose Joad (Victoria Schmidt) ist schwanger. Ihr Mann Al (Lisa-Marie Gerl) träumt davon, in die Stadt zu gehen und Radios zu verkaufen. Doch die Mutter (Saskia Taeger) hält die Familie eisern zusammen.
Die Großmutter stirbt. Am nächsten Tag erreichen die Übrigen schließlich das Land mit den grasbewachsenen Wiesen, den blühenden Bäumen und den kleinen weißen Häusern. Endlich wähnen sie sich im Paradies.
Doch von Tag zu Tag wird der angebotene Lohn niedriger. Für jeden, der Arbeit sucht, stehen Hunderte da, die sie noch dringender brauchen und zu noch niedrigeren Löhnen schuften. Die Spirale des Horrors dreht sich immer weiter hinab in die Tiefe der Unmenschlichkeit.
Aufgelockert hat Heinzelmann seine Inszenierung durch eingestreute Texte zur aktuellen Flüchtlingsthematik, zur Abgas-Affäre und dem Betrug bei Volkswagen (VW) sowie mit kritischen Analysen zum Kapitalismus. Mal ertönen sie aus einem Radio oder am Telefon, mal spricht ein an der Wand hängender Elchkopf die Texte mit verzerrter Stimme, die das Monster des Kapitalismus angemessen ausdrückt.
Alle Schauspieler wechseln ständig die Rollen. Das tun sie mit einer Finesse und Raffinesse, die man nur bewundern kann. Kinder und manchmal auch die Großmutter werden von Puppen dargestellt, die die Schauspieler ebenfalls gekonnt zum Leben erwecken.
Zwischendurch singen die Darsteller auch Lieder, wobei sie mal auf das Original drauf singen und vereinzelt auch alleine singen. Die Musik lockert das düstere Geschehen immer wieder auf und gewährt Pausen, die finsteren Vorgänge zu verdauen.
Der absolute Höhepunkt dabei ist eine grandiose Parodie auf "Atemlos durch die Nacht": Mit der brüchigen und lispelnden Stimme des behinderten Sohns spricht und singt Julia Glasewald den Text so schleppend, dass die Atemlosigkeit allenfalls beim begeisterten Publikum entstehen kann.
Am Ende der gut dreistündigen Premiere erhielten alle Beteiligten zu Recht minutenlangen Applaus und stehende Ovationen. Heinzelmann und seiner eindringlichen Inszenierung ist es gelungen, die verstörende Geschichte von Steinbeck gleichzeitig berührend und dennoch auch locker zu vermitteln.
Besonders unter die Haut ging die Szene zum Schluss, als die Mutter ihr letztes Brot hungernden Kindern schenkte und eine fremde Frau die Familie um Hilfe für ihren Vater bat, der alles Essen immer ihr gegeben habe und nun nichts mehr bei sich behalten könne. Er benötige Suppe oder Milch. Da stillt Rose, die ihr Kind bei der Geburt verloren hat, den alten Mann an ihrer Brust und zeigt so das Mitgefühl, das Tom dazu bewogen hat, sich den Protesten gegen die Ausplünderung anzuschließen selbst auf die Gefahr hin, dafür ebenso zu sterben wie der Reverend oder zumindest seine Bewährung zu verlieren.
"Gestorben sind wir alle schon, als man uns von unserem Land vertrieben hat", erklärt er. "Das hier ist kein Leben."
Durch den Hinweis auf die Flüchtlinge gewinnt die gut 75 Jahre alte Geschichte ganz neue Aktualität. Die beeindruckende Inszenierung ist nur jedem zu empfehlen, der Mensch sein und bleiben möchte.
Franz-Josef Hanke
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