12.11.2015 (fjh)
"Es gibt keine Hotspots", erklärte Elias Bierdel. Die angeblichen Hotspots in Griechenland, bei deren Besuch EU-Politiker gefilmt wurden, seien ein Fake. Eine umfassende staatliche Flüchtlingsversorgung finde in Griechenland kaum statt.
Unter dem Titel "Flucht – Ursache, Folge, Zukunft" hatte Oberbürgermeister Egon Vaupel zu einem Stadtforum über Flüchtlingspolitik in den Stadtverordnetensitzungssaal eingeladen. Vor gut 70 Interessierten schilderte Bierdel dort am Mittwoch (11. November) seine Erlebnisse als international aktiver Flüchtlingshelfer.
Von 2002 bis 2004 war der ehemalige ARD-Hörfunkjournalist Vorsitzender der Hilfsorganisation "Cap Anamur/Deutsche Notärzte". Seit Juni 2015 ist er auf der griechischen Insel Lesbos aktiv, wo er mit der Hilfsorganisation
Borderline Europe - Menschenrechte ohne Grenzen das Projekt "Proti Stassi" (als "Erste Station" für Geflüchtete aufbauen wollte.
Mit zahlreichen Fotos dokumentierte Bierdel seine Arbeit und das Elend der Flüchtlinge. Wütend mache ihn, dass Europa die Menschen an den Grenzen abzuwehren versuche und dass Flüchtlinge oft im Matsch unter freiem Himmel vegetieren müssen.
Er selbst sei in Afghanistan gewesen, berichtete Bierdel. Deshalb habe er vollstes Verständnis dafür, dass Menschen aus diesem Land fliehen. Menschen in angeblich befriedete Gebiete Afghanistans oder Syriens zurückzuschicken, sei für ihn absolut inakzeptabel.
Angesichts der Armut Griechenlands und seiner Bevölkerung könne er allerdings nachvollziehen, dass die Hilfe für Geflüchtete dort mittlerweile an Grenzen stoße. Sein Projekt in einem Dorf mit 350 Einwohnern, durch das jedes Jahr 300.000 Flüchtlinge durchreisen, habe er aufgrund erbitterten Widerstands leider aufgeben müssen. Allerdings habe diese Erfahrung seine bisherige Sicht auf die Hilfsbereitschaft der griechischen Bevölkerung nachhaltig angekratzt.
Hilfe für Geflüchtete sei ein Gebot der Menschlichkeit. Oft kämen Flüchtlinge zu 30 bis 50 Personen auf Schlauchbooten, die für sechs bis acht Leute ausgelegt sind. Mitunter seien diese Boote bereits unterhalb der Wasserlinie, wenn sie sich dem griechischen Strand nähern.
Bierdel berichtete von erschütternden Erlebnissen, die er mit Fotos dokumentierte. Eindrücklich beschrieb er die gesundheitlichen und menschlichen Tragödien, die sich auf den Fluchtrouten nach Europa ereignen.
In einem Museum hatte er eine Karte gefunden, die prähistorische Wanderungswege frühzeitlicher Menschen vor 800.000 bis 150.000 Jahren von Afrika nach Europa zeigt. Verblüffend ähnlich sehen die Migrationsbewegungen des Jahrs 2015 über die Balkan-Route nach Deutschland und Schweden aus.
Flucht sei fast immer das Ergebnis von Krieg und Armut. Verantwortlich dafür sei häufig die Politik Europas, das nach der Plünderung der eigenen Fischgründe nunmehr Fischerei vor den Küsten Afrikas und Asiens betreibt oder Waffen an korrupte Regimes überall auf der Welt liefert.
Angesichts dessen regte Bierdel zum Nachdenken darüber an, ob die Menschen in Europa nicht ihre Lebensweise ändern müssten. Schreite die Klimaerwärmung weiter voran wie bisher, stünden gewaltige Flucht- und Migrationsbewegungen bevor, warnte er. Auf Dauer könne kein Zaun die Menschen abwehren, die aus Not und Verzweiflung in Europa Schutz suchen.
Mit einem flammenden Appell sprach Oberbürgermeister Vaupel sich zum Schluss des Stadtforums für eine politische Diskussion über Flucht und Fluchtursachen aus. Viele Aussagen seiner eigenen Partei SPD zu diesem Thema könne er inzwischen nicht mehr nachvollziehen. Deshalb sei es ihm ein Anliegen gewesen, Bierdel einzuladen und damit eine weitergehende Debatte über die Universalität der Menschenrechte ohne Ansehen von Herkunft, Religion oder Nationalität anzustoßen.
Franz-Josef Hanke
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