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Herbstbelegung


Flüchtlinge berichteten im Erzählcafé

29.10.2015 (fjh)
Das Thema Flüchtlinge hat nicht nur eine besondere Aktualität; es geht auch darum, die Menschen und Lebenswege hinter den Zahlen kennenzulernen. Das war laut Andrea Fritzsch vom Projekt "Mosaiksteine" der Beweggrund, ein Erzählcafé anzubieten, in dem Flüchtlinge selber zu Wort kommen. Mehr als 200 Menschen drängten sich am Dienstag (27. Oktober) im Historischen Saal des Rathauses,um ihnen zuzuhören.
Dass die Stühle an diesem Abend nicht ausreichten, sah man als "Luxusproblem". Weitere Sitzgelegenheiten wurden organisiert; die Fensterbänke und sogar die Klavierbank waren besetzt, und einige Menschen blieben zwei Stunden lang stehen. Auch Oberbürgermeister Egon Vaupel nahm mit einem Stehplatz vorlieb, nachdem er die Gäste begrüßt hatte.
Er sei sehr stolz, Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg zu sein, sagte er einmal mehr. Die Integration von Flüchtlingen sei eine Aufgabe, die man in Marburg schaffen werde, "wenn wir alle solidarisch handeln".
Derzeit leben etwa 2.300 Menschen in Marburg, die als Flüchtlinge, Asylsuchende und mit unterschiedlichem Status registriert sind. 1.050 von ihnen kamen allein im Jahr 2015.
In den kommenden Wochen rechnet die Stadt mit weiteren 150 Menschen, denen man einen Platz geben möchte, "wo sie Ruhe finden und eine Zukunft haben", machte das Stadtoberhaupt deutlich. "Neue Bürgerinnen und Bürger" nennt der Oberbürgermeister sie explizit.
Die Vielfalt, die Marburg auf diesem Weg zusätzlich erhalte, werde künftig den Reichtum der Stadt ausmachen. Wichtig sei es, die Menschen aus der Anonymität zu holen und miteinander ins Gespräch zu kommen.
Diesem Zweck sollte auch das Erzählcafé dienen. Zwei Flüchtlinge saßen gemeinsam mit Fritzsch sowie der Übersetzerin Hossay Lalandary und der Camp-Ombudsfrau Shaima Ghafury auf dem Podium.
Anisa Nikzad ist 43 Jahre alt. Die gelernte Schneiderin stammt ursprünglich aus Afghanistan, von wo aus sie bereits vor 17 Jahren nach der Ermordung ihres Mannes in den Iran geflüchtet war. Seit fünf Monaten ist sie mit ihren Kindern in Deutschland, nachdem es für die Familie auch im Iran nicht mehr sicher gewesen sei, wie sie erzählte.
Mohamad-Nur Diar Bakerli ist 26 Jahre alt und in seiner Heimat Syrien BWL-Student und Profi-Basketballer gewesen. Er floh 2013 von dort und hat inzwischen in Marburg Fuß gefasst: Endlich kann er wieder Basketball spielen und macht derzeit ein Praktikum im städtischen Sportamt.
Beide kamen mit Schleusern nach Deutschland und erzählten von der Angst und vom Ausgeliefert-Sein während der Flucht. Nikzad musste mit ihren Kindern nach einem stundenlangen Marsch durch Schnee und Kälte mehrere Tage in einer Art Stall ausharren, bevor es mit dem Auto über die Türkei, Griechenland und Serbien nach Deutschland ging.
Sie haben unterwegs nicht gewusst, wo sie sich befinden. Als sie in Frankfurt ankamen, seien sie sehr erleichtert gewesen.
Sie kam über das Erstaufnahmelager in Gießen ins Camp nach Cappel. Seit einer Woche lebt die Familie in einer Wohnung in Cölbe.
Zum ältesten Sohn, der aus dem Iran nach Syrien ausgerissen war, um in den Krieg zu ziehen, hat sie seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Für ihre anderen Söhne wünscht sie sich vor allem, dass sie schnell Deutsch lernen können.
"Wir kommen jetzt zur Ruhe",sagte sie. "Wir fühlen uns sicher." Nur einsam fühlen sie sich ein wenig.
Bakerli spricht bereits fließend Deutsch. Was er erzählte, wurde für einige jugendliche Flüchtlinge, die die Sprache noch nicht verstehen, extra noch einmal zurück übersetzt.
Zunächst hatte er versucht, mit einem offiziellen Visum nach Schweden zu fliegen, wo eine befreundete Sportlerin lebt. Seine Flucht mit einem Schleuser führte dann ebenfalls über die Türkei und Griechenland. Von dort aus flog er mit einem falschen Pass dann zunächst nach Wien, bevor er von dort aus nach München gelangte.
Über Halberstadt und Magdeburg kam er schließlich nach Marburg. Im Frühjahr 2014 begann er mit einem Sprachkurs an der Philipps-Universität.
Zwei Monate hat er als Kellner gearbeitet. Nun absolviert er ein einjähriges Praktikum beim Sportamt der Stadt Marburg.
Die Deutschen erlebt er – auch wenn er in Halberstadt und Magdeburg zum Teil andere Erfahrungen gemacht hat – als tolerant und offen. "Ich komme ganz gut zurecht", erklärte der 26-jährige Flüchtling, der inzwischen auch eine deutsche Freundin hat.
Ghafury, die das Erzählcafé initiiert hatte, fühlte sich bei den Erzählungen an ihre eigene Flucht aus Afghanistan erinnert. Damals habe sie mit ihrem einjährigen Kind und über 20 anderen Leuten in einem Minibus gesessen, in dem normalerweise Gemüse transportiert wird. Es gab keine Fenster; und nachdem die Sonne aufgegangen war, sei die Atemluft als Wasser von der Decke gekommen.
Aus den Reihen der Gäste kam unter anderem die Frage, wie die Flüchtlinge die Rolle der Schleuser sehen, ob sie für sie Helfer oder Kriminelle seien. Nikzad erklärte, angesichts der Tatsache, heil in Deutschland angekommen zu sein, seien sie für sie hilfreich gewesen. Für Diar Bakerli sind es ganz klar Kriminelle, die nur auf Geld aus seien und keinerlei Rücksicht nähmen, aber: "Du hast keine andere Wahl."
Das Erzählcafé erreichte nicht nur sein Ziel, den Anwesenden die ganz persönliche Geschichte zumindest zweier Flüchtlinge näherzubringen, sondern schaffte darüber hinaus auch gleich noch weitere Vernetzungen. Ein Mitglied des Marburger Tauschrings fragte nach, ob Nikzad als gelernte Schneiderin nicht vielleicht nähen könnte und ob sie eine Maschine dafür bräuchte. Eine junge Frau brachte den Cölber Arbeitskreis für Flüchtlinge ins Gespräch, um Kontakte vor Ort zu knüpfen.
Auch die Gründung eines internationalen Kinderchors und ein Medienprojekt, in dem Jugendliche Filmen drehen und schneiden lernen, wurden kurz vorgestellt. Das Thema Flüchtlinge soll noch in weiteren Erzählcafés seine Fortsetzung finden, kündigte Fritzsch an.
pm: Stadt Marburg
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