08.05.2015 (svr)
"Lifelogging und das Leben mit der digitalen Aura" war am Donnerstag (7. Mai) Thema eines Vortrags des Soziologen Prof. Dr. Stefan Selke von der
Hochschule Furtwangen. Auf Einladung der
Humanistischen Union Marburg unternahm der Wissenschaftler im Käte-Dinnebier-Saal des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Streifzüge durch die Welt der digitalen Selbstvermessung.
"Lifelogging ist ein digitales Logbuch für den Menschen", erklärte Selke. Wie die Black Box im Flugzeug zeichnen Geräte persönliche Daten des Nutzers auf und speichern sie dann ab.
Über das Handy werden zahlreiche Daten erfasst und gespeichert. Neben Sport- und Diät-Apps gibt es eine GPS-gestützte Kontrolle der Kinder, damit Eltern immer wissen, wo sich ihr kleiner Liebling herumtreibt. Aber auch Warnsocken für Demenzkranke warnen die Familie, wenn der Opa entwischen will, oder Gabeln die vibrieren, wenn man zu hastig isst.
Um das Leben zu optimieren, benötigen Menschen angeblich Objektivität. Subjektiv gesehen, möchte man vielleicht gar nicht wissen, wie es um die eigene Fitness steht. So mindestens lautet die These von Befürwortern des Lifeloggings.
Deswegen brauche man rationale Maschinen, die Nutzern zu einem besseren Leben verhelfen. Doch wie motiviert sich Otto Normalverbraucher zum disziplinierteren Lebensstil?
"Mit Hilfe von Gamification werden die Nutzer spielerisch motiviert, die Anweisungen der Geräte umzusetzen", erklärte Selke. "Es gibt Highscores. Anwender können virtuelle Preise gewinnen und gegeneinander antreten."
Die scheinbare Problemlösung löst jedoch ein neues Problem aus: Stimmung und Emotionen der Anwender hängen nun von Diagrammen ab. Durch rote Balken oder traurige Smileys zeigen die Geräte dem Nutzer, dass er das Soll nicht erfüllt und sich selbst nicht unter Kontrolle hat.
Zum Nachdenken regten Selkes Thesen an, mit denen er der Ursache auf den Grund ging, warum sich der moderne Mensch von Maschinen vorschreiben lässt, was das Ideal sein soll. „Die Angst, als Altware aus dem Gebrauch gezogen zu werden und im Arbeitsmarkt nicht mehr mithalten zu können, ist groß. Der Körper wird zum Kompetenzsymbol, weswegen der Trend in Richtung Selbstperfektionierung geht."
Die Technik sei dabei ein willkommenes Hilfsmittel, denn sie warnt, wenn etwas nicht "normal" ist: "Wir machen uns selbst zur Ware, denn wir vermessen uns nicht nur, sondern lassen Geräte Entscheidungen übernehmen. Dabei werden Kategorien erstellt, über die wir uns definieren. Nicht messbare, situationsbedingte Kriterien, die das Mensch-Sein ausmachen, fallen dabei einfach weg."
Der Soziologe verwies auf die Unmenschlichkeit dieser "objektiven" Kriterien: "Die Diät-App sagt mir, dass ich heute schon genug Kalorien zu mir genommen habe. Dass heute die Sonne scheint und ich mich gut fühle, spielt bei der Entscheidung durch die Maschine keine Rolle."
Selke beendete seinen Vortrag mit einem Zitat des Unterhaltungskünstlers Friedrich Liechtenstein: "Wir sind nicht auf der Welt, um perfekt zu sein." Damit regte er eine intensive Diskussion unter den Teilnehmern an, die sich über Themen wie den "Menschen als Fehler" und vor allem auch über die Gefahr der totalen Überwachung austauschten.
Sarah Riescher
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