28.11.2014 (fjh)
"Man hat einen Kleiderschrank und Freunde." Mit diesem Satz beschrieb Herta Müller, was für sie "Heimat" ist.
In der vollbesetzten Alten Aula der
Philipps-Universität las die Literatur-Nobelpreisträgerin am Donnerstag (27. November) aus verschiedenen Texten. Zwischendurch befragte ihr Kollege und langjähriger Freund Ernest Wichner die Autorin zu ihrem Leben und ihrem Werk.
Zerbrechlich und schüchtern wirkte Müller, wenn Wichner sie ansprach. "Soll ich das lesen", fragte sie leise. Doch dann entfaltete ihre Stimme und vor allem ihr jeweiliger Text eine fesselnde Macht, der sich keiner entziehen konnte.
Angefeindet worden ist die Autorin für ihre Literatur. Das berichtete Prof. Dr. Wilhelm Solms zu Beginn des Abends. Der emeritierte Literaturwissenschaftler berichtete von früheren Lesungen Müllers in Marburg und den Reaktionen des Publikums.
In Marburg habe sie auch ihren heutigen Ehemann Harry Merkle kennengelernt. 1993 verarbeitete er gemeinsam mit ihr den Text "Der Fuchs, der Jäger" zu einer Bühnenfassung.
Eigens für eine Lesung rumäniendeutscher Literatur gründete Solms 1988 das Marburger Literaturforum. Seinen persönlichen Kontakten zu Müller war der Auftritt der Nobelpreisträgerin am Donnerstagabend in der Alten Aula geschuldet.
Auch Müller berichtete von Angriffen und Anfeindungen. Verantwortlich dafür machte sie den rumänischen Geheimdienst "Securitate" und die von ihm unterwanderte Landsmannschaft der Banater Schwaben in Deutschland. Bis heute warte sie noch auf eine Entschuldigung der Landsmannschaft für Störaktionen bei ihren Lesungen und die Aufarbeitung der Verstrickung in die Machenschaften der "Securitate".
Besonders perfide war die Anschuldigung der Landsmannschaft, Müller sei eine Agentin des rumänischen Geheimdiensts. Als sie 1987 in die Bundesrepublik übersiedelte, sei sie im Auffanglager wieder und wieder vom Bundesnachrichtendienst (BND) und vom Verfassungsschutz befragt und aufgefordert worden, ihre Agententätigkeit nun doch endlich zu gestehen. "Dabei dachte ich, ich wäre jetzt in einem demokratischen Land", klagte die Autorin erschüttert.
Auch an ihrem neuen Wohnort verfolgte die "Securitate" die ausgereiste Autorin weiter. Der Agent, der sie in Rumänien immer wieder verhört hatte, rief bei ihr an und drohte ihr mit dem Tod.
Die beängstigende Macht des Geheimdiensts über die Landesgrenzen hinaus beschrieb Müller in einem Text über den Besuch einer rumänischen Freundin in ihrer Wohnung. Sie gab ihr den Wohnungsschlüssel, den die Besucherin dann heimlich bei einem Schlüsseldienst nachmachen ließ. Als die Gastgeberin das entdeckte, musste die rumänische Freundin sofort abreisen.
"Auch in Rumänien gibt es eine Gauck-Behörde", erklärte Müller. Erleichtert stellte sie nach dem Aktenstudium dort fest, dass die Freundschaft ihrer früheren Kollegin nicht von der "Securitate" beeinflusst worden war, sondern der Geheimdienst sie erst angeworben hatte, als sie totkrank den Wunsch äußerte, die ausgereiste Freundin noch einmal zu besuchen.
Müllers Freund und Kollege Oskar Pastior hatte auch eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, für die "Securitate" zu spionieren. Seine Erlebnisse und die ihrer eigenen Mutter in einem ukrainischen Straflager hatte Müller in ihrem Meisterwerk "Atemschaukel" literarisch verarbeitet.
Pastior habe allerdings nur wenige Berichte für die "Securitate" geschrieben und niemandem ernsthaft geschadet, erklärte Müller nach dem Studium der Geheimdienstakten. Nach ihrer und Wichners Auffassung war er eher ein Opfer als ein Täter.
Aus "Atemschaukel" las Müller ein Kapitel über den Besuch des Protagonisten bei einer alten Frau. Ihr Sohn befand sich in einem sibirischen Straflager. In dem Besucher sah sie einen Schicksalsgenossen ihres Kinds und behandelte ihn deshalb wie ihren eigenen Sohn.
Die berührende und teils auch verstörende Lesung beschloss Müller mit einigen kurzen Texten aus "Vater telefoniert mit den Fliegen". Zu diesen - meist eher heiteren - Wortcollagen warf sie entsprechende Bilder an die Wand.
"Ich habe nie Literatur machen wollen", hatte Müller zu Beginn ihres Gesprächs mit Wichner erklärt. "Ich habe geschrieben, um einen Hald zu finden."
Die Kraft ihrer Literatur macht genau das aus: Indem diese zerbrechliche Frau in ihrer Ohnmacht niederschreibt, was sie bewegt, gewinnen ihre Worte eine großartige Macht. Müller schreibt nicht nur über Rumänien, sondern über die Menschen und ihre Ängste, über Verrat und Freundschaft.
Franz-Josef Hanke
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